11- Das Alte

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David lag auf seinem Bett, die Augen starr gegen die Decke gerichtet, die Arme über seinem rumorenden Magen verschränkt. An seinem Körper klebte der Schmutz der letzten beiden Tage, und trotz der Dusche schien er nicht ab zu gehen. Er war um eine Tracht Prügel von George nicht herum gekommen, immerhin war er fast eine ganze Stunde zu spät Zuhause angekommen, und hatte nach Zigarettenrauch gestunken, aber es war ihm gelungen, das schnell hinter sich zu bringen und dann für eine Weile in seinem Zimmer zu verharren, bis George sich beruhigt hatte und der Weg zum Badezimmer frei war. Dort hatte ihn Luke abgepasst, aufgeregt und neugierig, was David die letzten Tage erlebt hatte. Aber er war zu müde gewesen, um sich groß mit seinem kleinen Bruder auseinanderzusetzen.

Schlussendlich war er, nur in Boxershorts und einem übergroßen T-Shirt, mit nassen Haaren und einigen blauen Flecken, in sein Bett gefallen und hatte sich seither gut eine Dreiviertelstunde nicht bewegt.

Alles war wieder beim Alten. Das sagte ihm der Anblick seines Zimmers, der Duft nach dem Essen seiner Mutter, die Begegnung mit George und das Reden mit Luke. Das sagte ihm sein weiches Bett unter ihm und der Geruch des vertrauten Waschmittels, der in seinem T-Shirt hing. Aber David fühlte sich fehl am Platz. Wie ausgeschnitten aus seinem eigenen Universum lag er auf dem Bett und versuchte, sich wieder dort einzufügen, wo er herausgerissen worden war.
So konnte er es allerdings auch nicht ausdrücken. Er hatte sich selbst daraus entfernt, er war selbst verantwortlich. Es juckte ihm in den Fingern, sofort die Webseite zu suchen, auf der er den schrägen Spruch zum Seelentausch gefunden hatte und sie für immer aus dem Internet zu löschen. Auch wenn er nicht wusste wie man das tat. Er würde es schon herausfinden.

Auf seinem Nachttisch lag sein Handy, mit nur 11% Akku. Er hatte es, als er es auf dem Nachhauseweg in der Jackentasche gefunden hatte, sofort durchgesehen, auf Nachrichten geantwortet, die neuen Entwicklungen auf Instagram mit einem stolzen Grinsen bemerkt. Seine Comics waren erfolgreich geworden, seit er die beiden Gay Characters darin hatte. Er hatte sich nie was dabei gedacht. Jetzt machte alles Sinn, und das gefiel ihm nicht.

George hatte ihn so oft mit homophoben Beleidigungen belegt, dass sie an David abprallen müssten wie ein Gummiball von Sporthallenböden. Aber als er heute "Drecksschwuchtel" genannt wurde, hatte es etwas in ihm getroffen, das zuvor nicht dagewesen war. Er war schwul. Er hatte seinen Seelenverwandten kennengelernt, hatte sich in seinem Körper einen runtergeholt, er hatte mit dem Gedanken gespielt, mit ihm zu-
David konnte es nicht mehr leugnen, und so langsam befürchtete er, dass alles das, was er sich eingeredet hatte, von wegen "Es kann ein Missverständnis sein" und "Nichts zwingt mich, ihn zu lieben", vielleicht keine Bedeutung mehr hatte. Victor war unabänderlich in seinem Leben. Wenn David lange genug warten würde, würde die Zeit die Verbindung zwischen ihnen vielleicht wegwaschen, aber David wusste nicht, ob er das wirklich wollte.

Eigentlich wollte er sich übergeben.

Sein Magen krampfte sich zusammen, aber nichts fand seinen Weg nach oben. Victor wusste anscheinend nicht, wie man sich richtig ernährte. Allerdings musste David zugeben, dass er in Victors Körper auch keinen großen Appetit verspürt hatte. Er setzte sich auf und hielt sich den Magen. Sein Bett quietschte nicht, anders als Victors. Er suchte nach einer Wasserflasche, aber um sein Bett herum fand er nichts. Vielleicht beim Schreibtisch. Ächzend stand David auf und steuerte darauf zu. Dabei kam er an dem Spiegel vorbei und warf einen flüchtigen Blick hinein. Er hielt inne. Das war er. Sein eigenes Gesicht, das ihm entgegenblickte. Seine blau-braunen Augen, seine unebene Nase, sein schmächtiger Körper, seine Locken. Selbst die verblasste Narbe an seinem Knie von einem Fahrradunfall als Kind war noch da. Er war wieder er selbst. Warum fühlte er sich dann so komplett anders?

Wieder überkam ihn die Übelkeit. Ob das vielleicht doch nicht an dem Hunger lag? Diesmal zwang es ihn in die Knie. Er setzte sich gekrümmt auf den Boden, das Steißbein gegen die Wand gepresst, seine Beine angezogen, Tränen in den Augen vom Zusammenziehen seines Magens. Es fühlte sich so anders an, genau wie alles um ihn herum. Aber das hier, der Schmerz und die Übelkeit, das war viel intensiver.

Es schüttelte ihn durch, von Kopf bis Fuß, zog an allen Nervenenden und aktivierte jeden Muskel. Er atmete stoßweise. Geh weg, geh weg, geh weg. Er legte seinen Kopf auf seinen Knien ab, kniff die Augen zusammen. Geh weg.
Die Übelkeit war wie weggeblasen, als die erste Träne über seine Wange lief. Geh weg, Victor. Er ärgerte sich über sich selbst. Wieso hatte er dieser dummen Webseite geglaubt, wieso hatte es funktioniert? Wieso musste er es auch ausprobieren. Um von George weg zu kommen? Ja, das hatte er sich gesagt. Aber war da nicht etwas in ihm gewesen, das endlich Gewissheit eingefordert hatte? Diese leise Stimme die wissen wollte, ob es ein Junge sein würde?

Er schlang seine Arme um seine Knie und zog sie noch ein Stück näher an. Diesmal schüttelte ihn ein Schluchzen. Das war nichts, was er sein wollte. Er wollte George nicht noch eine Angriffsfläche bieten, er wollte seine Mutter nicht enttäuschen, er wollte... er wollte einfach ganz normal erwachsen werden, eine nette Frau finden, Kinder bekommen und die dann aufwachsen sehen, mit seiner Mum als Oma und seinem Bruder als Onkel Luke.
David schniefte und strich sich verstohlen die Tränen von den Wangen. Nein, Selbstmitleid würde ihn nicht weiter bringen.
Auch wenn er sein Leben lang versucht hatte, es vor sich selbst zu verstecken: er war schwul. Und so seltsam und unerwartet diese letzten beiden Tage auch waren, sie hatten ihn wenigstens dazu gebracht, sich nicht mehr selbst anzulügen. Wie sagt man? Das schwerste Outing ist das Outing vor sich selbst.

Er fragte sich, ob Victor je ein Problem damit gehabt hatte. Schließlich ging er offensichtlich ganz ruhig damit um, dass David aufgetaucht war. Zwar hatte David das Gefühl gehabt, dass Alice dazu eine klare Meinung hatte, aber das war nicht seine Baustelle gewesen, als er noch in Victors Körper gewesen war, also hatte er es nicht verfolgt. Er dachte an ihn, wie er früher am Tag mit einem einzelnen zufriedenen Lächeln festgestellt hatte, dass er wieder in seinem eigenen Körper war. So eine coole Reaktion hatte David nicht erwartet. Es hatte ihn ein wenig überrumpelt, sodass er nur unbeholfen an sich heruntergeschaut und dann peinlich berührt seine Tasche geschultert hatte. Fast hätte er sich nochmal umgedreht, als er den Weg zur Bushaltestelle eingeschlagen hatte. Aber dann war ihm, als wäre Victor mit Alice schon hinter der nächsten Ecke verschwunden, und er hatte es nicht getan.

Jetzt, auf dem Boden seines Zimmers, bereute er das.

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AOF

The ME inside of YOU (boyxboy)Where stories live. Discover now