25 - Die Mutter

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Samstag- 2 Stunden vor dem Geburtstag

David bekam einen Kuss auf die Wange gedrückt. Er versuchte, sich daraus zu retten, aber seine Mutter hatte ihn fest an sich gedrückt.
"Mum, wirklich!"
Sie ließ ihn nur ungern los und wischte ein paar Mal über seine Wange, um ihren Lippenstift-Abdruck zu entfernen.
Sie trug Lippenstift.
Sie fühlte sich, als würde sie eine Maske tragen.

"Ich habe dich erst seit gestern wieder.", gab sie dann zu bedenken. Sie betrachtete ihren Sohn, wie sie es seit der Eskalation, wie sie es betitelt hatte, immer tat. Mit dem Blick einer Frau, die fremd in diesem Körper war, weil sie so nah bei ihm stand, und trotzdem eine Distanz von mindestens 2 Kilometern wahrnahm. Wie oft hatte sie ihn am gestrigen Tag, nach dem er endlich wieder nach Hause gekommen war, angesehen und gedacht: Wieso erkenne ich meinen Jungen nicht wieder?

Vielleicht, weil sie eine wichtige Seite seines Lebens völlig ignoriert hatte. Vielleicht, weil sie ihn gesehen hatte, wie sie ihn hatte sehen wollen. Als ein stilles, kunstbegabtes Kind. Jetzt musste sie feststellen, dass er erwachsen geworden war, und dass es einen Grund dafür gegeben hatte, warum ihre beiden Kinder so still waren.

Sie sah ihn an, wie sie es tat, seit sie ihn mit dem Knutschfleck gesehen hatte. Neben einem fremden, halbnackten Mann. In lautem Gebrüll, mit blutenden Nasen und geworfenen Büchern. Und sie sagte sich: Cynthia, es ist sein Leben. Sei froh, dass er jemanden an seiner Seite hat.
Und dann dachte sie wieder an ihren anderen Sohn, der noch zu jung war, um jemanden zu haben, der sich für ihn prügelt, oder zu dem er hätte flüchten können, und fragte sich zum abertausendsten Mal ob sie als Mutter versagt hatte, als sie als Ehefrau gewinnen wollte.
Auch wenn da kein Ring an ihrem Finger war.

Das alles raste durch ihren Kopf, als David zur Sicherheit nochmal über seine Wange wischte und sie dann ansah, als wollte er sich erneut beschweren, es aber dann doch nicht tat.

"Ich weiß, Mum. Aber heute Abend bin ich wieder da. Versprochen." Schritte waren auf der Treppe zu hören und Luke kam zu den beiden. Er erfasste die Situation nicht, wie sie es taten. Er spürte die Worte und Gedanken nicht, die sich in ihnen stauten. Aber er spürte, dass Spannung in der Luft lag.
"Hey... Wo gehst du hin?"

David hatte sich seine Jacke unter den Arm geklemmt und schielte für einen Moment zur Seite zu seinen Schuhen, die er noch anziehen müsste. Victor und Alice sollten nicht auf ihn warten.
"Äh... zu einem Geburtstag. Ich komme heute Abend wieder." Er nutzte die Chance und ging zu seinen Schuhen. Auf der Ablage fehlte ein Paar. Genau wie eine Jacke fehlte, und ein Schlüsselbund, und ein Teller am Tisch. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie befreiend die Abwesenheit dieser Dinge auf ihn wirken würde. Er fühlte sich endlich wieder ein wenig wohl, wenn er sich außerhalb seines verriegelten Zimmers befand.

"Okay."
Luke hatte das Interesse am Gespräch verloren. Er ging zum Wohnzimmer, um zu sehen, was im Fernsehen lief.
"Richtest du Victor aus, über was wir gesprochen haben?", erinnerte seine Mum David nochmal, und jetzt wurde Luke hellhörig.
Noch bevor David diese Frage zum dritten Mal mit "Ja" beantworten konnte, fragte sein kleiner Bruder: "Victor hat Geburtstag?"

David sah auf. Seit Luke sich so im Zwiespalt über seine und Victors Beziehung geäußert hatte, versuchte er herauszufinden, wie Luke inzwischen darüber dachte. Aber seine Miene war undurchdringlich. "Nein. Äh, seine Mutter hat Geburtstag. Alice, Victor und ich gehen auf die Feier."

Luke nickte für einen Moment still, dann grinste er. "Du lernst seine Familie kennen. Du weißt, was das heißt!"
David wusste nicht, was das hieß. Aber Erleichterung machte sich in ihm breit. So sprach ein Siebtklässler.
Also antwortete er mit einem halbverzogenen Grinsen und wandte sich wieder an seine Mum. "Mein Handy ist auf laut, du kannst mich anrufen, falls was ist.", sagte sie und David nickte. Er sah auf seine Uhr.
Er trug eine Uhr.

The ME inside of YOU (boyxboy)Where stories live. Discover now