Prolog

2.8K 121 33
                                    

Amber Almond stand mit dem Rücken zur Wand.

Ihr Körper bebte. Mehrmals hatte sie sich gezwungen, an ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen und war doch gleich wieder aufgesprungen, um rastlos in ihrem Büro hin und her zu laufen. Dem Drang, sich die Haare zu raufen, hatte sie nicht nachgegeben.

Eigentlich war ihr Schreibtisch ihr Ort der Ruhe und Konzentration. Sie hatte ihn so platziert, dass jeder Besucher mit dem Rücken zur Aussicht sitzen musste.

Jetzt war sie ans Fenster getreten und blickte mit geballten Fäusten über die Stadt. Sie sah gerne hinaus. Es verlieh ihr ein Gefühl von Macht, von Sicherheit und Kontrolle. Als könnte sie es als erste sehen, wenn in der Stadt irgendetwas passierte.

Die Aussicht reichte von den Fabriken im Südosten der Stadt, aus deren Schornsteinen wabernder, weißer Qualm drang, über die runden Gewächshäuser, deren rautenförmig angeordnete Glasplatten das Licht der Sonne zurückwarfen, bis hin zu Reihen um Reihen heller, blockartiger Häuser mit grünen Rasenflächen, sauber, gerade, Haus neben Haus. Straße neben Straße. Der Kontrollturm, der neben der Ratshalle in die Höhe ragte, warf seinen langen Schatten über den Jahrtausendplatz, eine kreisrunde Fläche aus hellen Pflastersteinen, in dessen Mitte Rabastan Wulf, als Statue verewigt, sein Haupt der Sonne entgegenstreckte. Rabastan war der Gründer der Stadt gewesen, hatte alleine den Hohen Rat gegründet, bis nach und nach sechs weitere Stellen dazugekommen waren. Ihm hatten sie das alles hier zu verdanken. Aus Trümmern und Schutt hatte er die Stadt aufgebaut, die nun tausenden Menschen Schutz und Heimat bot.

Tausenden Menschen, die gleich ihre Arbeitsstellen verlassen und mit dem Zug nach Hause fahren würden. Die einen Plausch mit den Nachbarn halten, zu Abend essen, zu Bett gehen würden, bis morgen alles von vorne begann.

Rabastan Wulf war schon lange tot. Nun war es ihre Aufgabe, sie zu schützen. Eine Aufgabe, die nicht immer einfach war.

Ihr war, als könnte sie den Rauch noch sehen, der im Westen der Stadt aufgestiegen war und den Himmel verdunkelt hatte, bis er sich in immer heller werdenden Spiralen mit den Wolken vermischt hatte. Meist mied sie den Blick in diese Richtung. Es war der Teil der Stadt, der ihr Sorgenfalten bereitete und sie sah lieber auf das hinunter, was sie erreicht hatten. Doch heute Vormittag war sie mit zitternden Fingern am Fenster gestanden und hatte das Gesicht nicht abwenden können. Die Truppe, die sie ins Viertel der Streuner geschickt hatte, hatte keinen Erfolg vermelden können. Stattdessen hatten sie sich angestellt wie blutige Anfänger. Hatten ein ganzes Haus in Brand gesetzt, sich selbst eingeschlossen. Nicht alle hatten es zurückgeschafft. Sie ballte die linke Hand zur Faust, Fingernägel bohrten sich in ihre Handfläche. Sie trauerte nicht um den Verlust stümperhafter Wachmänner, doch es war eine erneute Niederlage. So viel Hoffnung hatte sie in diese Mission gesteckt. Vor ihren Kollegen im Hohen Rat behauptet, sie sei ein wichtiges Stück auf der Suche vorangekommen.

Ein Schritt vor, zwei zurück. So war es immer.

Sie streckte die Finger. Betrachtete die halbmondförmigen, dunkelroten Druckstellen, die in ihrer Handfläche zurückblieben.

Sie konnte den nächsten Schritt nicht länger hinauszögern.

Entschlossen wandte sie sich ab und ließ sich ein weiteres Mal auf ihrem Schreibtischstuhl nieder.

Ihre rechte Hand lag auf der Tischplatte. Blasse, schlanke Finger mit spitzen Fingernägeln. Weiß auf Braun. Sie strich über die feine Maserung des Holzes. Wollte sich daran festhalten. Das Blatt Papier lag in Reichweite, doch noch wollte sie es nicht berühren. Noch war sie nicht bereit.

Die Vermutung, die sich letztlich bestätigt hatte, hatte sich schon lange in ihr geregt, ein leises Gefühl, das an die Oberfläche drängte. Sie hatte Beweise gesucht, doch keine gefunden. Hatte so sehr auf ein gutes Ende gehofft. Hoffnung hatte sie blind werden lassen.

Hatte Amber gedacht, dass es so weit kommen musste? Nein. Sie hatte sich vor diesem Moment gefürchtet. Eine Entscheidung, die ihr ganzes Leben ändern würde und nicht nur das ihre. War sie deshalb ein schlechter Mensch? Bestimmt nicht.

Als Mitglied des Hohen Rates hatte sie schon oft schwere Entscheidungen treffen müssen. Entscheidungen, die das Leben anderer beeinflusst, manchmal beendet hatten. Sie war daran gewöhnt, das Wohl der Stadt im Blick zu behalten, auch wenn das bedeutete, einzelne Bewohner zurücklassen zu müssen. Doch diesmal war es anders und es raubte ihr die Luft.

Ihr war klar, was sie zu tun hatte. Sie hatte keine andere Wahl. Manchmal mussten Opfer gebracht werden. Für das größere Wohl. Das hatte sie geschworen, im Moment ihrer Vereidigung. Sie hatte geschworen, die Stadt zu schützen, die Bewohner zu schützen.

Ohne Rücksicht auf Verluste.

Ihre Finger schlossen sich um den Stift, hielten ihn unschlüssig in der Luft. Blaue Tinte glänzte an seiner Spitze. Ihr Herz klopfte vorwurfsvoll.

So viel zu verlieren. So unendlich viel zu verlieren.

Sie zog das Blatt zu sich heran. Vermied es, die Worte noch einmal zu lesen, die sie selbst geschrieben hatte.

Sie würde nicht verlieren.

Die Spitze des Stiftes bohrte ein Loch in das Blatt.

Sie hatte keine Wahl. Sie trug Verantwortung.

Mit einem tiefen Atemzug setzte sie ihre schwungvolle Unterschrift auf das Papier.

Es war doch nur zu ihrem Besten.

Runner - Die Jagd beginntWhere stories live. Discover now