28.

360 35 8
                                    

„Halt den Mund, Kate!", rief Jeremiah. Protestierend fuhr Kate zu ihm herum und öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, doch unter seinem Blick verstummte sie. Isabella hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Blue packte Kate am Arm und bugsierte sie, ohne auf ihren Protest zu achten, zum Waschraum hinüber.

Isabella stand da, wie gelähmt. Kates Worte hatten sie völlig unvorbereitet getroffen. Sie hatte nicht mehr darüber nachgedacht, wie Meredith gestorben war, sondern war völlig selbstverständlich von einem Unfall ausgegangen, nachdem sie erkannt hatte, dass die Runner um sie trauerten. Wenn es stimmte, was sie behauptete – aber wer würde von Merediths Tod profitieren?

Jeremiah trat auf sie zu. Besorgnis spiegelte sich in seinen Augen. „Ich wollte nicht, dass du es so erfährst."

„Ich habe sie nicht gestoßen.", flüsterte sie. „Ich wusste nichts davon."

Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Das wissen wir. Sonst hätten wir dich nicht aufgenommen."

„Ich möchte nach Hause.", platzte es aus ihr heraus. Es war ihr egal, was die Runner dachten. Keine Sekunde länger hielt sie es hier aus.

„Ich bringe dich zurück.", sagte Cube und hielt ihr die Hand hin.

Den ganzen Weg zurück erlebte sie wie in Trance. Cube leitete sie sicher und ohne ein Wort zu sagen durch das Tunnelsystem. Erst nach einiger Zeit fiel ihr auf, dass er ihr nicht einmal die Augen verbunden hatte, doch ihr fehlte die Energie, sich den Weg einzuprägen. Wenn es stimmte, dachte sie, stand sie vor einem neuen Scherbenhaufen. Meredith hatte so viele Geheimnisse vor ihr gehütet, jetzt sollte auch ihr Tod ein neues Rätsel sein?

Sie war erleichtert, als sie die Tür des Hauses der Familie Almond hinter sich schloss und die Treppe nach oben huschte. Sie sehnte sich danach, sich in ihr Bett zu verkriechen und für einen Moment all die Fragen zu vergessen. Doch als sie am oberen Treppenabsatz angekommen war, stutzte sie. Ein merkwürdiges Geräusch drang aus Merediths Zimmer. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie ihre Mutter so gesehen. Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden, Merediths Kopfkissen gegen die Brust gedrückt, und schaukelte vor und zurück. Tränen liefen in Strömen über ihre Wangen und tropften vom Kinn in ihren Schoss. Aus ihrem sonst so strengen Haarknoten hatten sich einzelne Strähnen gelöst und ihre Tränen zogen, mit ihrem Make-up vermischt, schwarze Spuren über ihr Gesicht.

Isabella spürte, wie ihr selbst Tränen in die Augen schossen. Sie wusste, dass es besser wäre, heimlich in ihr Zimmer zu verschwinden, doch sie konnte nicht anders, huschte in den Raum, kniete sich neben ihre Mutter und zog sie an sich. Sie spürte wie ihr Brustkorb bebte und ihr ganzer Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. „Es tut mir leid.", flüsterte Amber mit krächzender Stimme. „Es tut mir so unendlich leid."

Plötzlich spürte Isabella, wie ihr Herz zu rasen begann. „Was tut dir leid?", fragte sie mit zitternder Stimme.

„Ich wollte nie, dass du so etwas erleben musst. Ich wollte immer, dass du und Meredith ein gutes Leben habt. Ich habe es nicht geschafft.", schluchzte ihre Mutter. „Meredith." Ihre Stimme verschwamm zu einem Wimmern. „Meine süße, kleine Meredith. Ich habe sie verloren."

Salzige Tränen rannen Isabellas Wangen hinunter und tropften von ihrem Kinn, während sie ihre Mutter festhielt. Sie wusste nicht, wie lange sie so saßen. Noch nie hatte sie sich ihr so nah gefühlt und sie wollte sie für immer festhalten und nie mehr loslassen.

Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper ihrer Mutter. Sie richtete sich auf, streckte die Schultern durch und wischte sich über das tränennasse Gesicht.

„Geh zu Bett, Isabella.", sagte sie. „Es ist schon spät." Mit diesen Worten stand sie auf und ließ ihre Tochter allein im Raum zurück.

Nie zuvor hatte sie ihre Mutter so gesehen, so verzweifelt und ehrlich traurig. Bisher war sie immer eine starke, unnahbare Frau gewesen, die all ihre Gefühle hinter einer kalten Fassade versteckt hatte. Aber das war alles. Eine Fassade. Und zum ersten Mal hatte Isabella einen Blick dahinter werfen können.

Isabella hatte sich ablenken lassen, hatte Wochen verschwendet. Beinahe etwas wie Mitleid hatte sie für die Runner empfunden, nachdem sie Jeremiahs Geschichte erfahren hatte. Sie hatte sich einwickeln lassen und begonnen, zu glauben, was sie ihr erzählten. Blind hatte sie vertraut, dass Kates Worte wahr waren. Aber was, wenn es gar nicht stimmte? Wenn sie nur Misstrauen säen wollte? Tatsächlich hatte Isabella für einen kurzen Moment an ihrer eigenen Mutter gezweifelt. Dabei war das, was Kate gesagt hatte, nichts weiter als eine Vermutung.

Sie erinnerte sich auch an Jeremiahs Worte. Er war stolz, dass beide Töchter von Amber Almond auf der Seite der Runner standen. Er hatte es gesagt, als sei es ein Ziel gewesen, eine Mission, die erfolgreich verlaufen war. Für einen Moment hatte Isabella sich ablenken lassen, doch jetzt war ihr Kopf wieder klar. Sie wollten sie auf ihre Seite ziehen, gegen die Regierung aufbringen. Doch sie hatte sie durchschaut. Und mehr noch: es herrschte Zwiespalt innerhalb der Gruppe. Sie war fast am Ziel. Am Ende war sie sogar froh um Kates Ausbruch. Denn er hatte ihr gezeigt, dass es nicht nötig war, die Runner gegeneinander auszuspielen. Sie taten es selbst.

In dieser Nacht fand sie kaum Schlaf. Stattdessen setzte sie sich mit einem leeren Schulheft ans Fenster und begann im leichten Schein der Nachttischlampe, alles aufzuschreiben, was sie bisher über die Runner wusste. Sie durfte nichts vergessen, was sie ihr erzählt hatten. Nach Stunden betrachtete sie zufrieden ihr Werk. Sie hatte mehrere Seiten gefüllt. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst, wie sie das Heft ihrer Mutter übergab. Doch noch musste sie abwarten, denn die entscheidenden Hinweise fehlten noch. Aber es war nur noch eine Frage der Zeit. 

Runner - Die Jagd beginntWhere stories live. Discover now