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Lange war es Is schwergefallen, den richtigen und den leichten Weg zu unterscheiden. Jetzt wusste sie es. Sie hatte den schweren gewählt, aber es war der richtige, dessen war sie sich mittlerweile sicher. Auch wenn das hieß, dass sie sich von Freunden verabschieden und sich selbst in Gefahr bringen musste. Und zu wissen, dass sie sich richtig entschieden hatte, fühlte sich gut an.

Die Idee war ihr langsam gekommen, war in einer dunklen Ecke ihres Gehirns geboren und hatte sich langsam ausgebreitet. Sie brauchten Medikamente für Phoebe. Und die richtigen Medikamente konnten sie nur an einem Ort der Stadt bekommen: in einer der zahlreichen Kliniken. Der Plan war gefährlich, wahrscheinlich sogar hirnrissig. Aber lieber würde sie sterben bei dem Versuch, als zuzusehen, wie immer mehr Leben aus Phoebes Gesichtszügen verschwand.

„Ich werde Medikamente besorgen, in der Klinik.", sagte sie entschlossen und versuchte, die entgeisterten Blicke der Runner möglichst selbstsicher zu erwidern. „Mein Vater ist Arzt. Er wird helfen. Er muss."

„Das ist Selbstmord.", sagte Blue. „Du übergibst dich dem Feind."

„Nein!", rief sie. „Du verstehst nicht." 

Er konnte nicht verstehen, weil er die Erinnerung nicht vor sich sah, die Is in den Kopf gekommen war. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, als würde er vor ihr stehen. Sah ihn über den Rand der aufgeschlagenen Zeitung hinausblicken, das Gesicht von Sorge zerfurcht. 

„Sei vorsichtig, egal wie du dich entscheidest.", hatte er zu ihr gesagt, bevor sie das erste Mal die Runner aufgesucht hatte. „Ich will meine zweite Tochter nicht auch noch an sie verlieren."

An sie verlieren. Damals hatte Is gar nicht daran gezweifelt, dass er die Runner meinte. Heute war sie sich dessen nicht mehr sicher.

Was, wenn Meredith wirklich durch die Hände der Wachmänner gestorben war – und was, wenn er davon gewusst hatte? Was, wenn er nicht von den Runnern gesprochen hatte, sondern vom Hohen Rat?

Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Vielleicht war es eine komplett falsche Theorie. Aber wenn es nur den Hauch einer Chance gab, musste sie es versuchen. Wenn sie Phoebe retten wollten, blieb ihr nichts anderes übrig.

Blue blieb skeptisch. „Nehmen wir an, du hast Recht und er hilft uns. Wie wollen wir ungesehen zur Klink gelangen? Du hast gesehen, was passiert ist. Die Dächer bieten uns keinen Schutz mehr. Sie erwarten uns dort. Wir können das Versteck nicht verlassen, ohne gesehen zu werden." 

„Dann werden sie uns eben sehen!", rief Is und fuhr zu Robbe und Car herum. „Habt ihr noch die weißen Kleider, die ihr in der Nacht der Lichter getragen habt?"

Kurze Zeit später hatten sie einen Stapel heller Kleidung aus einer Truhe gezogen. Is nahm Rock und Bluse entgegen. Ihr eigener, ehemals heller Kleiderhaufen lag noch immer im Waschraum, Reste von Schmutz und Blut hielten sich hartnäckig daran fest. 

Als Blue nach den Männerkleidern griff, warf Is ihm einen überraschten Blick zu. 

"Keine Alleingänge.", sagte er schulterzuckend. 

Mit schnellen Schritten war Kate an ihn herangetreten und schnappte nach dem Kleiderbündel. "Auf gar keinen Fall!", protestierte sie. Blue zog seine Hand weg. 

"Wir müssen es riskieren. Is und ich sind die einzigen, die nicht auffallen."  

Is war froh, dass er sie begleiten wollte, auch wenn sie ihn ein weiteres Mal einer großen Gefahr aussetzte. Was sie vorhatten, erschien ihr plötzlich gefährlicher, als in schwindelerregenden Höhen über die Dächer zu rennen. 

Minuten später waren Blue und Is nicht wiederzuerkennen. Sie steckten in einigermaßen sauberen, weißen Klamotten, hatten die Haare gebürstet und den Schmutz aus dem Gesicht gewischt. Sie achteten darauf, nicht die erdigen Wände der Tunnel zu berühren und zogen sich so vorsichtig wie möglich aus einem Gitter, um ihre Kleidung sauber zu halten. 

Runner - Die Jagd beginntWhere stories live. Discover now