(10) - Neben der Spur

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Als ich wieder aufwachte, war David weg. Ich drehte mich zur Seite. Auf dem Couchtisch lag ein kleiner Zettel.
Langsam streckte ich meine Hand aus und nahm ihn.

Hallo Tessa.
Ich hoffe, du konntest dich etwas ausruhen. Ich musste weg, hatte noch einen wichtigen Termin.
Hab dich lieb- bis bald,
David

Seufzend ließ ich den Zettel aus meiner Hand fallen und setzte mich auf. Mein Kopf brummte etwas und ich rieb mir meine Schläfen. Mein Blick wanderte auf das Display meines Handys. 19:37 Uhr.
Während ich geschlafen hatte, war eine neue Nachricht angekommen.
Alex hatte mir noch einmal versichert, dass ich jederzeit mit ihm reden könnte, wenn ich wollte.
Ich antwortete ihm schnell.
Es war so lieb von ihm. Aber gerade brauchte ich es nicht. Ich hatte mich wieder beruhigt. Akzeptierte wieder, dass ich für meine Mutter da sein musste. Dass sie meine Hilfe brauchte. Dass das so einfach die Normalität war.
Schwankend stand ich auf und ließ mich in der Küche auf einen Stuhl sinken.

Mein Blick glitt ziellos durch den Raum, über die Arbeitsflächen, zum Kühlschrank. Was wollte ich hier?
Mein Kopf fühlte sich zermalmt an. Seufzend richtete ich mich wieder auf und schleppte mich ins Bad, um mich fürs Bett fertig zu machen. Ich hatte jetzt nichts mehr in der Küche zu suchen, sondern sollte einfach wieder schlafen gehen.

Blind tastete ich nach meinem Handy, welches seinen Weckerton munter vor sich her dröhnte. Doch statt auf die Austaste zu treffen, fegte ich das piepsende Etwas mit einem Wisch vom Nachttisch.
Auf der einen Seite froh, meinen Wecker gestern Abend schlaftrunken noch gestellt zu haben, auf der anderen Seite einfach nur genervt und geplättet, fischte ich mein Handy vom Boden und stellte diesen Wecker endlich aus.
Für einen kurzen Moment schloss ich nochmal meine Augen und sog die frische Luft ein, die durch das offene Fenster in mein Schlafzimmer kam.
Und mit diesem tiefen Atemzug fiel mir auch ein, was ich gestern vergessen hatte.
Ich ließ mich rücklings auf das Bett fallen und rollte mich umständlich auf die andere Seite. Warum fühlte sich mein Körper bei jeder Bewegung schwerer an? Der gestrige Tag lag mir wohl noch sehr in den Knochen.
Diese doch eher schwungvolle Bewegung katapultierte mich kurz vor eine schwarze Wand, vor der ich dennoch automatisch an die Schublade meines zweiten Nachttisches fasste und sie aufzog. Doch ich griff ins Leere. Ich tastete mit meiner Hand im Kreis, doch fand nur leeren Boden und eine Packung Taschentücher. Auch mit klarem Blick kam ich nicht weiter.
Seufzend rappelte ich mich auf. Wo hatte ich mein verdammtes Spray schon wieder hingelegt?

Der zweite Wecker des Morgens erinnerte mich daran, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte.
Dann eben kein Spray, wird schon schiefgehen.

Leicht gehetzt kam ich in der Apotheke an. Es brauchte spürbar mehr Mühe, um Luft zu holen. Doch mit dem Wissen, dass das gleich wieder ging, wenn ich ein wenig gesessen habe, ließ ich mich nicht in Unruhe verfallen.
Auch mein Kollege merkte meine Anstrengung und bedachte mich mit einem sehr kritischen Blick.
Ich hob meine Hand, um zur Gegenwehr anzusetzen. "Geht gleich wieder, ehrlich."
Er zog eine Augenbraue nach oben. "Wenn du meinst. Aber ich möchte dich nicht gleich über dem Tisch hängen sehen", bemerkte er ziemlich ernst, ehe er die Schachteln, die er in den Händen hatte, in die passende Schublade sortierte.
"Ich glaube", begann ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen, "ich muss heute zum Arzt und mir ein neues Spray verschreiben lassen. Ich habe meins irgendwie verlegt."
"Hört man", schob mein Kollege ein, ehe er kopfschüttelnd in den Verkaufsraum ging.
Ich verdrehte meine Augen und atmete einmal durch. Ging doch schon wieder.

"Ich wünsche Ihnen gute Besserung", sagte ich gerade lächelnd den wohl am häufigsten benutzten Satz und wandte mich vom Tresen ab.
"Den nächsten, der seine Hexenküche spielen lassen will, übernimmst du. Ich kann nicht nochmal so ruhig bleiben", ließ ich meinen Kollegen wissen, als der Laden gerade leer war.
Er kam gerade um die Ecke und grinste mich beinahe schadenfroh an.
"So schlimm? Was wollte der denn?"
Zu einer Erklärung kam ich nicht, denn ein Klingeln riss unsere beiden Blicke in den Hinterraum. Mein Kollege sah zu mir.
"Dein Handy?"
Ich nickte schnell. "Sorry, hab vergessen, den Ton auszustellen", entschuldigte ich mich und ging schnellen Schrittes nach hinten durch.
Eigentlich war mein Plan, nur schnell den Ton auszumachen, als mein Blick auf den Anrufer fiel. Mein Herz stoppte kurz, ehe es etwas schneller seine Arbeit fortsetzte.

Automatisch zog mein Daumen am grünen Hörer.
"Wiemke?"
"Ja, guten Tag Frau Wiemke, hier ist Frau Meier, Sekretariat des Lessing-Gymnasiums Köln. Ihre Schwester Mailin hatte im Sportunterricht einen Unfall. Wäre es Ihnen möglich, zur Schule zu kommen? Ich konnte Ihre Mutter nicht erreichen."
Ich blickte wie erstarrt auf den Tisch, der vor mir stand, und ließ die Worte eine Extrarunde in meinem Kopf drehen, bevor mir etwas über die Lippen kam. "Natürlich, ich bin in zehn Minuten da."
Ich achtete nicht auf die folgenden Floskeln der Sekretärin, legte auf und schnappte meine Tasche, in die ich achtlos mein Handy warf.
"Wer war das denn und wo willst du hin? Du musst noch vier Stunden arbeiten", holte mich mein Kollege ins Hier und Jetzt zurück.
"Kannst du bitte allein übernehmen? Meine Schwester hatte einen Unfall, ich muss zu ihr in die Schule."
Verdattert starrte er mich an, nickte jedoch langsam.
"Okay", sagte er etwas überfordert. "Aber denk dran, renn nicht, du hast dein Spray nicht genommen", rief er mir dann nach, als ich schon Richtung Ausgang eilte.
"Danke, du hast was gut bei mir", warf ich ihm auf halbem Weg zu, ehe die Ladentüren vor meiner Nase aufgingen und ich gerade so einem neuen Kunden ausweichen konnte.

Aus den angekündigten zehn Minuten wurden fünf. Meine Beine trugen mich schnell und leiteten mich wie von allein zu Mailins Schule.
Gerade vor dem Schulgelände angekommen, hielt ein NEF genau neben mir. Ich blickte kurz zur Seite und sah Paula, die aus dem Auto sprang.
"Oh, Tessa, was machst du denn hier?", fragte sie überrascht, während sie mit ihren Handschuhen kämpfte.
Ich blieb stehen. Mir schwante, was sie hier machten.
"Mailin hatte einen Unfall im Sportunterricht", erklärte ich kurz. Mehr wusste ich nun auch nicht.
Paula hielt inne, ihr Handschuh schnippte geräuschvoll an ihr Handgelenk.
"Wir wurden zu einem Sportunfall in der Turnhalle gerufen", stellte sie fest und Erkenntnis breitete sich in ihrem Gesicht aus.
Ich verstand ihre Worte nur schwer, denn es kam noch der dazugehörige RTW neben uns zum Stehen, die Türen knallten.
Franco kam auf uns zu und Paula lief einer Lehrerin entgegen, die gerade in unsere Richtung kam.
"Geht es um Mailin?", fragte Franco mich direkt, während er sich ebenfalls Handschuhe überzog. Er schien also zu ahnen, dass ich nicht einfach grundlos vor der Schule meiner Schwester stand.
Ich nickte nur.
Und mit diesem Nicken bestätigte ich widerwillig die Situation. Meine Schwester hatte einen Unfall.
"Komm, wir gehen erstmal hoch", sagte Franco beruhigend, der meine wachsende Unsicherheit spürte, und zog mich am Arm mit zum Gebäude. "Es muss ja nicht so schlimm sein", setzte er hinterher.
"Aber es wurde ein NEF mitgeschickt", sagte ich nervös.
"Auch das ist oft nur provisorisch, wenn die Situation unklar ist", erwiderte Franco in derselben ruhigen Tonlage.
Wir stiegen mittlerweile die Treppen hoch. Und mein heute nicht genommenes Spray zeigte wieder seine Folgen. Ich atmete zitternd ein und klammerte mich mit einer Hand am Geländer fest.
Sofort hatte ich Francos volle Aufmerksamkeit.
"Alles okay bei dir?", fragte er sofort besorgt.
Ich nickte nur unwirsch und setzte meinen Fuß eine Stufe höher.
"Wir müssen erstmal zu Mailin."

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)

Scars || ASDSWhere stories live. Discover now