(19) - Alex' Sorgen

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Ganz am Rande und viel leiser als sonst, als hätte man die Lautstärke runtergedreht; hörte ich erneut die Klingel über der Tür und drehte meinen Kopf leicht zur Seite.
Ich sah ein paar Sanitäter eintreten, die ich nicht kannte und hinter ihnen- Alex.
Mit einer kleinen Tasche in seiner Hand wanderte sein Blick zuerst zu den beiden Männern, die am Boden lagen. Seine Augenbrauen hoben sich kaum merklich, als er David erkannte und ihm schien etwas zu dämmern. Sofort schnellte sein Blick hoch und fiel direkt auf mich.
Sein Gesicht verlor augenblicklich einiges an Farbe, als er sich durch die Menge an Sanitätern und Polizisten zu mir durch kämpfte.
Irgendwas neben der Erleichterung, ihn zu sehen, breitete sich nun in mir aus. Das Gefühl, ihm keine Sorgen machen zu wollen. Generell war diese ganze Situation gerade so unwirklich für mich.
Wie um zu zeigen, dass mein jetziger Zustand nur von kurzer Dauer war, rappelte ich mich auf und stützte mich auf zittrigen Armen ab.
"Nee, komm, warte mal-", wollte Alex mir zuvorkommen, der sich nun neben mich kniete.
Doch mein Körper machte mir einen Strich durch die Rechnung und ich spürte in einem berauschenden Gefühl der Hilflosigkeit, wie meine Arme unter mir nachgaben.
Reflexartig fing Alex mich auf, bevor mein Kopf auf dem Boden aufschlagen konnte. Direkt spürte ich seine Hand an meiner Wange und blinzelte ihn an. Sein Gesicht über mir schien immer wieder zu verschwimmen; war doppelt, dreifach und dann wieder einzeln. Aber seine Miene war noch besorgter geworden.
"Franco! Komm mal!", rief er durch den Raum, während er zwei Finger an meinen Hals legte.
Mein Blick schwamm wieder durch den Raum und ich sah Franco aufblicken, der sich allem Anschein nach gerade mit Stephan unterhalten hatte; ein Klemmbrett unter dem Arm. Die kurz aufflackernde Frage, weshalb ich ihn nicht eher gesehen hatte, verblasste recht schnell wieder. Es fühlte sich so an, als könnte ich in meinem Kopf nicht mal für zwei Sekunden einen Gedanken festhalten. Als würden sie sofort weiterfliegen, um meinen Kopf möglichst leer zu halten.

"Ich treffe dich gern, aber nicht so", probierte Franco, einen Witz zu reißen, als er zu uns rüber kam.
Doch es ging mir gerade zu bescheiden, um darauf einzugehen.
Auch Alex überging seine Bemerkung. "Tessa, wo wurdest du getroffen?", fragte er mich eindringlich.
"Am Kinn und am Arm, aber geht", murmelte ich schwach.
"Was ist genau passiert?", fragte er weiter, während er meinen ganzen Körper musterte.
"Alex, ich... Ich kann nicht mehr", brachte ich jämmerlich über die Lippen. "Ich bin müde und..." Ich brach ab, merkte, wie es immer mehr zu einem aussichtslosen Kampf wurde, meine Augen aufzuhalten.
Wollte ich diesen Kampf gewinnen? Schon während der Überlegung spürte ich, dass das alles umsonst war. Ich wurde haltlos in ein dunkles Loch gezogen. Ohne Kontrolle über meinen Körper.
"Hey, Augen auf, Tessa, nein!" Hektisch rüttelte Alex an meinem Oberkörper, doch mich konnte nichts mehr aufhalten. Ich konnte und wollte nicht mehr.

"Nein, will ich nicht", hörte ich Alex leise sagen.
"Ja, keiner will, aber es wird vielleicht nicht zu umgehen sein", erwiderte eine andere Stimme ebenso leise, die ich als Francos identifizierte.
Die Stimmen der beiden waren dumpf am Rande meines Bewusstseins und wurden nur langsam lauter und deutlicher.
Ich blinzelte. Grelles Licht und verschiedene Farbtöne verschwammen vor meinen Augen. Es brauchte eine Weile, bis das Bild scharf wurde.
Ich fühlte mich überrollt, schwer. Als würde ein großer Felsen auf mir liegen, sich auf mich drücken und mir das Atmen erschweren. Doch der Untergrund war weich. Weicher als der kühle, geflieste Boden der Apotheke.
Ich lag in einem RTW.

Alex wandte seinen Blick von Franco und ließ ihn auf mich sinken. Als er sah, dass meine Augen offen waren, erhellte sich seine Miene schlagartig.
"Da bist du ja wieder!", rief er erfreut aus. Und ziemlich überrascht.
Schwach hob ich meine Hand, nur um zu bemerken, dass dort ein Zugang steckte. Das war doch alles völlig unnötig.
"Okay, wir würden jetzt fahren", teilte Alex einem Sanitäter mit, der nickend den RTW verließ. Auch Franco ging nach einem besorgten Blick, der mir galt, nach draußen.
"Du fährst bei mir mit?", fragte ich dann milde überrascht. Meine Stimme war ziemlich leise. "Was ist mit David?"
Alex zuckte mit den Schultern. "Er hat nen Cut über dem Auge, aber er ist hart im Nehmen, wie schon immer", er zwinkerte mir zu, was wie ein trauriger Versuch wirkte, mich zum Schmunzeln zu bringen, "Bei dir hingegen mache ich mir mehr Sorgen." Falten bildeten sich auf seiner Stirn. "Du wirst um einen Aufenthalt in der Klinik nicht herumkommen."
"Nein", entgegnete ich sofort und machte Anstalten, mich aufzusetzen. "Nein, ich bleibe nicht in der Klinik. Dafür habe ich keine Zeit."
"Talessa, sei nicht unvernünftig", tadelte Alex mich und seine Augen blitzten warnend auf, als ich mich aufrichten wollte. Ich ließ es sein. Er wirkte nicht gerade strapazierfähig. Geduld wurde heute bei ihm definitiv klein geschrieben. "Wir gehen kein Risiko ein."
"Risiko? Ich habe Kopfschmerzen, sonst ist alles gut", besänftigte ich ihn kläglich.
Er schnaubte. "Du warst gerade bewusstlos."
"War ich das?"
"Talessa, nein, ich mach das nicht mit. Ende der Diskussion." Er schüttelte den Kopf.
"Wir haben nicht mal angefangen", forderte ich ihn heraus. "Das war gerade vielleicht ein kleiner Schwächeanfall. Ich habe kaum geschlafen und das alles raubt mir echt den letzten Nerv, der nicht mal mehr wirklich vorhanden ist."
Mit versteinerter Miene guckte er weg und symbolisierte mir somit, dass das Gespräch beendet war.
Manchmal liebte ich meinen besten Freund besonders.

"Frau Wiemke, seien Sie vernünftig", redete Doktor Seehauser auf mich ein.
"Bin ich. Ich habe total viel Verantwortung zu Hause, da kann ich nicht einfach mal ausfallen", beharrte ich bei meiner Haltung.
Er seufzte auf. Hatte anscheinend keine Lust, mich ein zehntes Mal darauf hinzuweisen, wie leichtsinnig ich doch war. "Ich kann Ihnen nur den ärztlichen Rat geben, bei uns zu bleiben. Festhalten darf ich Sie nicht. Und glauben Sie mir, dass ich das sonst tun wurde."
Es ist nicht so, dass seine Worte unbedeutend an mir vorbeizogen. Ich ließ sie mir durch den Kopf gehen. Sorgfältig und bedacht. Doch mein Entschluss stand. Ich konnte nicht hierbleiben und abwarten.

"Kann ich diesen Zettel da unterschreiben?", fragte ich deshalb mit einer Stimme, die jedem zeigen musste, dass ich nicht mehr umzustimmen war.
Doktor Seehauser gab auf, auch wenn er das ungern tat, wie ich in seinem Gesicht ablesen konnte.
"Sagen Sie", hielt er mich mitten auf dem Weg zum Empfang nochmal auf, "haben Sie wenigstens jemanden bei sich, der handeln kann, falls etwas passiert?"
Gerade so kann ich verhindern, ihm eine Lüge aufzutischen. "Nein", gestand ich dann schließlich.
"Sie kommt zu mir", ertönte hinter uns eine Stimme. "Wenn sie sich schon nicht überreden lässt, bei dir zu bleiben."
Wir drehten uns beide um und sahen Alex auf uns zukommen, der wohl hier gewartet haben musste.
"In deinen Händen ist sie ja sicher, aber wann hast du Feierabend?", hakte der Arzt skeptisch nach.
"In einer halben Stunde. Bei Glück kommt nichts mehr rein."

Und dieses Glück hatten wir auch.
Ich wartete vor der Klinik auf Alex, der mich hier abholen wollte.
Ich wusste, dass er mir auch nochmal einen ellenlangen Vortrag halten würde, doch das war mir egal. Ich wollte einfach meine Ruhe und nicht noch in einem fremden Zimmer liegen, in dem immer wieder irgendwelche Pfleger reinplatzten.
Kaum saß ich auf dem Beifahrersitz seines Autos, öffnete er seinen Mund. "Muss ich nochmal-"
"Nein Alex, musst du nicht", unterbrach ich ihn. "Bitte, ich weiß das alles. Aber ich bin gerade emotional einfach aufgeschmissen, da brauche ich dich als besten Freund und nicht als Arzt."
"Na schön", gab er brummend nach, "aber du sagst mir, wenn du etwas Ungewöhnliches spüren solltest."
"Wird gemacht."

Das alles zehrte zu sehr an meinen schon vorher angefressenen Kräften.
Ich lehnte meinen Kopf an die Fensterscheibe und genoss die Kühle, die sich langsam auf meinem Kopf ausbreitete und der nach wie vor brennenden Stelle an meinem Kinn etwas Besänftigung schenkte. Ich kam auf klarere Gedanken. Wobei ich mir nicht sicher war, ob ich diese jetzt haben wollte. Denn sie stellten mich vor Fragen, auf die die Antworten so unerreichbar wirkten.

Alex holte uns beiden Wasser, ehe er sich zu mir auf die Couch fallen ließ.
"Möchtest du darüber reden?", fragte er ruhig und überhaupt nicht drängend.
Ich wusste, dass er mich niemals zum Reden drängen würde.
"Keine Ahnung, ja, nein", sagte ich und hob ziemlich hilflos meine Schultern.
"Was ist denn da eigentlich genau passiert?", fragte Alex dann und sah mich an, während er sich anlehnte.
Also erzählte ich ihm von Berts Annäherungsversuchen, Davids Eifersucht und wie es schließlich zu der Prügelei kam.
Alex' Miene blieb die ganze Zeit unverändert. Lediglich ein kleines Stirnrunzeln zeichnete seine Gesichtszüge.
"Willst du darüber nochmal mit David reden?", fragte er dann.
"Jaah, muss ich denke ich", nuschelte ich, während ich mich in eine Decke eingrub und an Alex lehnte. "Ob er will oder nicht."

"Willst du schlafen?", fragte er leise und rückte etwas zur Seite, damit ich meinen Kopf auf sein Bein legen konnte.
"Ja", murmelte ich und schloss meine Augen. "Du weißt schon… der Jahrestag, die Albträume, die schlaflosen Nächte… wie immer halt." Meine Stimme wurde von der Decke abgedämpt.
Alex erwiderte nichts. Ich spürte nur irgendwann seine Hand, die mir über die Haare strich.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)

Scars || ASDSWhere stories live. Discover now