Auftakt: Wer suchet, der findet... vielleicht

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37. Jir'Lore 2145 n.n.O.

Marcus lag im Bett und starrte teilnahmslos an die Decke.

Er kannte dieses Gefühl – oder besser: Die Abwesenheit von Gefühlen.

An diesem Punkt war er schon einmal gewesen, damals vor so vielen Jahren, nachdem seine Frau gestorben war. Es hatte lange gedauert bis diese Leere wieder Stück für Stück gefüllt worden war – hauptsächlich durch seine Tochter. Sie allein war es gewesen, die ihn jeden Tag aufs Neue motiviert hatte, aufzustehen und weiterzumachen. In kleinen Schritten vorwärts zu gehen, obwohl sich alles in ihm danach gesehnt hatte, nichts davon tun zu müssen, einfach liegen bleiben und warten bis alles endlich vorbei wäre.

Und nun war seine Tochter weg.

Dieser Gedanke stach ihm ins Herz wie ein Stahlnagel, der sich durch viele Hammerschläge unerbittlich in eine Hand bohrte. Ein Teil von ihm krümmte sich. Aber der weitaus größere Teil seiner selbst war viel zu taub, um wirklich etwas zu fühlen. Und müde. Er war unglaublich müde. Seufzend drehte er den Kopf zur Wand. Selbst das fiel ihm schwer.

Tagelang hatte er nach ihr gesucht, selbst dann noch, als alle anderen Helfer aufgegeben hatten, weil ihre eigenen Leben sie wieder brauchten. Er hatte den Wald abgesucht und ihren Namen geschrien bis er vor Heiserkeit keinen Laut mehr über die Lippen gebracht hatte. Er hatte alle Landstriche der Umgebung durchquert bis seine Füße blutig gelaufen waren. Er hatte jeden nach ihr gefragt, den er getroffen hatte bis wirklich jeder im näheren Umkreis seinen Namen kannte – und ihren.

Aber es hatte nichts gebracht.

Alles, was sie gefunden hatten, waren die zerrissenen Sachen seines Gesellen am Flussufer und seinen anderen Gesellen, schlafend im Wald. Trell hatte auch nur Vermutungen äußern können, die nicht weiterhalfen. Dann war er weitergezogen, vielleicht auch nach Hause gegangen. Marcus wusste es nicht, Es interessierte ihn ebenso wenig wie irgendetwas anderes, seit er mit Suchen aufgehört hatte. Seitdem lag er einfach nur im Bett und hoffte, dass alles endlich vorbei wäre.

Es klopfte.

Er brummte, schaffte es jedoch nicht, sich umzudrehen, starrte einfach weiter auf die karge Wand, als sich die Tür vorsichtig öffnete und Hannah leise eintrat. Seine Haushälterin kam noch immer jeden Tag und stellte sicher, dass er etwas aß und das Haus sich nicht in einen rattenverseuchten Müllberg verwandelte. Sollte es doch. Es war ihm egal.

„Marcus", setzte seine langjährige Angestellte und Freundin zögernd an und stellte das Tablett mit Essen auf seinen Nachttisch. Er reagierte nicht. Stattdessen starrte er weiter blicklos vor sich hin und wünschte sich, dass sie wieder ging. Aber wie üblich ging sie nicht, sondern öffnete still das Fenster, um wie jeden Tag Licht und Luft in sein Zimmer zu lassen.

„Marcus", versuchte Hannah es wieder leise und abermals erntete sie nur sein Schweigen. Trotzdem sprach sie weiter. „Ich gehe heute zu Meisterin Thoran und hole Sengas Sachen ab. Ich wollte nur, dass du das weißt."

Er hörte, wie sich ihre Schritte schwer über den Fußboden auf die Tür zuschoben und vage wurde ihm bewusst, dass es auch für sie schwer war. Denn sie hatte Senga mit fast ebenso viel Liebe und Geduld wie ihre eigene Tochter großgezogen. Auch sie trauerte.

„Warte", sagte er endlich, während er noch immer auf die Wand vor sich starrte und ihre Schritte stockten. „Ich komme mit."


Der Weg zur Schneiderei war lang gewesen.

Jeder Schritt hatte Marcus unendlich viel abverlangt. Sengas Sachen zu holen, hieß zuzugeben, dass sie nicht mehr benötigt wurden. Dass sie nie wieder kommen würde. Wäre Hannah nicht gewesen, er hätte sich auf halber Strecke hingesetzt und wäre nicht wieder aufgestanden. Aber Hannah war da, still und trauernd wie er selbst. So war er schweigend weitergegangen bis sie vor der Tür der Schneiderwerkstatt standen.

Das Windspiel über der Tür läutete leise, als sie eintraten.

Während Hannah das Reden mit Meisterin Thoran übernahm, sah Marcus sich mit zugeschnürter Kehle um: Die Hemden, Kleider, Hosen, Blusen, Röcke, die überall ausgestellt waren... ob seine Senga etwas davon genäht hatte? Marcus wusste es nicht. An den Wänden hingen Giselles Landschaftsbilder. Während er sie betrachtete, hörte er die Stimme seiner Tochter, wie sie davon schwärmte, obwohl sie die ältere Gesellin auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Langsam ging er weiter in die hinteren Räume. Hier war die Werkstatt. Hier hatte seine Tochter jeden Tag gearbeitet. Fast konnte Marcus sie vor sich sehen, wie sie vor einer Nähmaschine saß, den Kopf konzentriert gesenkt, die flammend roten Haare zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden. Mit Tränen in den Augen ging er näher zu dem Arbeitsplatz, als könnte er ihr damit näher sein.

Dabei fiel sein Blick auf einen Skizzenblock.

Ob das Sengas war? Manchmal hatte sie ihre Entwürfe grob skizziert, ehe sie sich an die Ausarbeitung gemacht hatte. Doch als er das kleine Ding durchblätterte, fand er keine Skizzen von Kleidern, sondern von Landschaften, Menschen, Zacery. Dunkel starrte Marcus auf das Bild des jungen Mannes, der ihm aus der Skizze mit seinen schalkhaften Augen und dem Buch in der Hand regelrecht entgegen zu springen schien. Anscheinend hatte er nicht nur seiner Tochter den Kopf verdreht.

Doch Zacerys Schicksal war ebenso ungewiss, wie Sengas. Ob seine Eltern Bescheid wussten? Mit Sicherheit nicht, denn er hatte bisher niemanden informiert, obwohl es seine Verantwortung als Meister gewesen wäre. Wieder dachte er an Trells Anschuldigungen, dass es vielleicht kein Unglück, sondern eine Entführung war. Dass Zac... Aber das grenzte an Wahnsinn. Und was, wenn doch?

„Kann ich Ihnen helfen?"

Überrascht drehte sich Marcus zu der jungen, grazilen Frau um, die leise hinter ihn getreten war. Das war wohl Giselle. Er blinzelte sie an. In Sekundenbruchteilen traf er eine Entscheidung, die schon lange in seinem betäubten Geist gärte.

„Haben Sie das gezeichnet? Die Skizze von Zacery?" Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren, rau und kratzig. Er hatte lange Zeit kaum ein Wort gesprochen. Trotzdem fuhr er fort: „Könnten Sie das ins Reine zeichnen? Und ebenso ein Bild meiner Tochter? Natürlich bezahle ich Ihnen das."

„Äh", die junge Frau schien unsicher, doch er würde ein ‚Nein' schlichtweg nicht akzeptieren. Anscheinend sah man ihm das auch an. „Ich denke schon."

Dankbar nickte er Giselle zu, als Hannah mit einer von Sengas Taschen neben ihn trat und ihn mit einer knappen Geste zum Gehen aufforderte. Als sie beide wieder draußen waren, musterte sie ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Marcus – was hast du vor?"

Müde aber entschlossen erwiderte er ihren Blick. „Ich werde Zacerys Familie aufsuchen und ihnen berichten. Das ist meine Pflicht. Ich habe seinen Gesellenbrief aus der Innung, wo er in die Lehre ging. Die werden sicher wissen, wo er wohnt."

Und vielleicht... ja, ganz vielleicht würde er auch etwas über Senga erfahren. Irgendeine Spur, damit er endlich wusste, was geschehen war. Hannah nickte nachdenklich, als verstünde sie nicht nur seine Worte, sondern auch seine Gedanken. Vielleicht tat sie das sogar. „Gut. Wann wollen wir los?"

Er blinzelte überrascht und sah seine alte Freundin an. Das erste Mal seit langem. Erst jetzt nahm er die tiefen Sorgenfalten in ihrem Gesicht wahr, die vor ein paar Zyklen noch nicht dagewesen waren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihre sonst schlichte Kleidung, gegen ebenso schlichte aber schwarze Trauerkleidung getauscht hatte. Erst jetzt sah er, wie krampfhaft ihre Hände die Tasche mit Sengas Sachen umklammerten.

Vorsichtig kam er auf sie zu und nahm ihr die Tasche aus der Hand, die sich nur widerwillig von der Schlaufe löste. „Hannah. Du musst nicht-" Er brach sofort ab, als er sah, wie wütend sie ihn mit einem Mal anfunkelte. Als wäre sie kurz davor, ihn zu ohrfeigen. Doch stattdessen nahm sie eine braune Haarsträhne, die sich gelöst hatte und steckte sie mit zitternden Händen wieder in ihrem praktischen, straffen Haarknoten fest.

„Doch, Marcus, ich muss. Sie ist auch meine Tochter."

Des Wassermanns Weib II - berührtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt