𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱

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𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱


Letztes Jahr

Blake öffnete eine Tür, die für Cal unsichtbar gewesen war, eine Tapetentür zu einem ehemaligen Dienstbotengang. In der plötzlichen Dunkelheit, die sie umschloss, musste sie sich auf Blakes Atem konzentrieren, um ihm folgen zu können.

Am Ende des schmalen Ganges, den sie nur tastend nehmen konnte, befand sich eine noch schmalere Wendeltreppe, gerade breit genug für Blake, der kein Wort mit ihr wechselte, während sie sie erklommen. Oben angekommen öffnete er eine Dachluke.

Sein glühender Blick traf ihren und sie stieg die letzten Stufen zur Luke empor. Als sie sie erreicht hatte spürte sie Blakes Hände an den Hüften, er stabilisierte sie bei ihrem ungelenken Versuch, auf das Dach zu klettern.

Als sie sich aufrichtete, schlug ihr überraschend kalter Nachtwind ins Gesicht. Cal schnappte nach Luft und wankte in wenig, sie bemerkte nicht, dass Blake sich langsam neben ihr aufrichtete, die weißen Hemdsärmel hochgekrempelt, die Hände selbstsicher in den Hosentaschen vergraben.

Der Blick, der sich ihr bot, war wunderschön. Solche Worte kamen selten in Cals Geschichte vor, und wenn, dann beschrieben sie überirdisch reiche Männer wie Eustace Blake, keinen Ausblick.

Das hier aber war wunderschön. Es gab kein anderes Wort dafür.

Die Festung war größer als die meisten anderen Häuser in Kensington. Das Dach ermöglichte ihr nicht nur den Blick über den kleinen Park vor dem Haus, es zeigte ihr alles, was in Kensington leuchtete, und alles, was in Kensington dunkel blieb. Zu dieser Jahreszeit qualmten die wenigsten Kamine, sodass die funkelnden Lichter der Stadt gestochen scharf in Cals Augen blitzten.

Während sie die Dächer betrachtete wurde Cal das Gefühl nicht los, dass sie von hier aus alles sehen konnte. Jeden glücklichen und unglücklichen Menschen, jeden Lebenden und Sterbenden, sie konnte sich selbst sehen, wenn sie die Augen fest zusammenkniff, wie sie dünn und verlassen in einer Straßenecke lag, eine silberne Nadel im Arm. Das Gefühl war unbeschreiblich.

Auf ihren Lippen breitete sich ein feines Lächeln aus, und sie bemerkte nicht, dass Blake nicht die Stadt beobachtete, sondern sie.

Er berührte sie sanft am Ellenbogen und deutete nach oben.

Ihr entfuhr ein überraschtes Seufzen.

Über ihren Köpfen funkelten unzählige Sterne, verstreut, als hätte ein sehr großes Wesen einen sehr großen Sack Glitzerstaub im Weltall ausgeschüttet.

„Wie ist das möglich?", murmelte sie und fühlte sich noch ein bisschen mehr wie die Königin der Welt.

Blake setzte sich auf den Boden und sie tat es ihm gleich. Nur widerwillig löste sie den Blick von den Sternen, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Sie legte den Kopf erneut in den Nacken. 

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie anders Blake sich hier oben verhielt.

Er wirkte gelöst, beinahe erleichtert, das erste Mal so, als wäre er nicht mehr als ein gutaussehender junger Mann, der Träume und Albträume hatte, wie jeder andere Mensch auch. Es war, als hätte er den Wolf in der Festung zurückgelassen.

„Die Sterne über London sind besondere Sterne.", antwortete er. Cal fror ein wenig in der nächtlichen Brise.

„Über der Stadt kann man keine Sterne sehen. Ich habe es zumindest noch nicht erlebt. Hier gibt es zu viele Autos, zu viel Licht und zu viel Dreck."

Vitriol. Der SchakalWhere stories live. Discover now