20. Kapitel

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Ich konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, wie ich aus dem Verbotenen Wald zurück ins Schloss und in mein Bett gekommen war, ich wusste nur, dass unser Julfest nach dem rituellen Entzünden des Feuers noch lange nicht zu Ende gewesen war. Wir hatten getanzt, gesungen, gelacht... Die Bilder verschwammen in meiner Erinnerung zu einem einzigen Durcheinander, überstrahlt vom hellen Licht der magischen Feuer.

Als ich mit Elaine und Xameria die grosse Halle betrat um zu Frühstücken, war diese deutlich leerer als am Vortag. Die Tische der Gryffindors, Ravenclaws, Hufflepuffs und Slytherins waren nur noch dünn besetzt, einzig am Tisch der Finjarelles schienen noch ungefähr gleich viele Leute zu sitzen, auch wenn auch hier einige Gesichter fehlten. William zum Beispiel war nicht mehr da. Er war heute Morgen in aller Frühe aufgebrochen, erzählte uns Kaspar.

Die folgenden Tagen vergingen damit, dass Elaine, Xameria, Kaspar und ich im Gemeinschaftsraum faulenzten, Karten spielten, würfelten oder einfach nur vor dem warmen Feuer vor uns hindösten. Im Rest des Schlosses machte man sich unterdessen daran alles festlich herauszuputzen, schliesslich stand Weihnachten vor der Tür. Wie auch in meiner Zeit wurden in der grossen Halle zwölf grosse Weihnachtsbäume aufgestellt, auch wenn sie anstelle von goldenen Kugeln und Lametta, von Strohsternen und roten Äpfeln geschmückt waren, die sich allerdings erstaunlich gut hielten. Der magische Schnee durfte natürlich trotzdem nicht fehlen und so fühlte ich mich beinahe wie zu Hause, wenn ich in der grossen Halle sass. Nur meine Freunde fehlten mir. Jessie, Cedric, Fred und George, Charlie, Angelina und Alicia. Und Joanne, die ich in den Sommerferien, bevor ich von zuhause abgehauen war das letzte Mal gesehen hatte. Ob sie sich wohl um mich sorgten? Wahrscheinlich. Ich traute meiner Mutter zu, dass sie jedem einzelnen von ihnen auf die Pelle gerückt war, um herauszufinden, ob vielleicht einer von ihnen wusste, wo ich mich versteckt hatte. Wahrscheinlich wusste sie mittlerweile schon vom Gemeinschaftsraum der Finjarelles und hatte eins und eins zusammen gezählt. Oder war in meiner Realität vielleicht gar keine Zeit vergangen, seit ich hier war? Etwa so wie bei Lucy Pevensie, als sie beim Versteckspiel nach Narnia gelangt war und ihr Bruder noch nicht mal mit dem Zählen fertig war, als sie wieder zurückkehrte? Meine Gedanken drehten sich unablässig, während ich am Finjarelletisch sass und mit den Fingern meiner einen Hand ungeduldig auf die Tischplatte trommelte, während ich mit Gabel in der anderen den Weihnachtsbraten in mich hineinschaufelt. Immer wieder huschte mein Blick zum Gryffindortisch hinüber, wo ich sonst immer gesessen hatte und hinauf zum Lehrertisch, wo Finëa zwischen den anderen Gründern und ein paar weiteren Lehrern sass. Sie sah von den fünfen am jüngsten aus, doch ich wusste, dass der Eindruck täuschte. Und trotzdem konnte ich kaum glauben, dass sie um so vieles älter war als die anderen vier.

Es war bereits nach Neujahr, als Finëa mich das nächste Mal zu sich in ihr Büro rief. Wieder sass sie hinter dem grossen Eichenholzschreibtisch, doch diesmal stand davor ein Stuhl, auf dem sie mir bedeutete mich niederzulassen.

«Du sagtest, dass du hier seist, weil ich dir aufgetragen habe, herauszufinden, wer mich ermorden will, beziehungsweise wer mich ermordet hat», kam sie ohne Umschweife zum Thema und musterte mich mit ihren Raubkatzenaugen. «Das stellt uns ganz klar vor ein Problem.»

«Was denn für ein Problem?», fragte ich überrascht. «Dass Sie nicht sterben wollen?»

«Das auch», meinte Finëa und wieder zuckte ein leises Lächeln um ihre Mundwinkel. «Vielleicht sollte ich sagen, es stellt dich vor ein Problem.»

«Was wäre das für ein Problem?», fragte ich nach.

«Nun, Adrienne, ich habe das so verstanden, dass ich dir versprochen habe, dass ich dich zurückschicken werde, wenn du deinen Teil des Versprechens erfüllt hast. Allerdings werde ich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr Leben.»

Das war tatsächlich ein Problem. Und zwar eines, das mir gar nicht gefiel. «Was soll ich denn jetzt machen?», jammerte ich. «Ich will nicht für immer hierbleiben. Das wollte ich nie! Ich wollte doch einfach noch nicht mit meiner Ma sprechen müssen.»

«Vielleicht solltest du dir das nächste Mal vorher überlegen», stellte Finëa fest und sah mich scharf an, womit sie mich sofort zum Verstummen brachte. Sie hatte je recht, das hatte ich jetzt verstanden. Sie alle hatten recht gehabt, als sie mich dazu gedrängt hatten, mich mit meiner Ma zu versöhnen. Aber ich war zu stur gewesen. Stur und dumm, und das hatte ich jetzt davon. Ich sass eintausend Jahre vor meiner Geburt in Hogwarts fest.

«Ich denke, ich habe bereits eine Lösung für dieses Problem gefunden», erklärte Finëa mit einem hinterlistigen Funkeln in den Augen. «Gib mir deinen Arm. Den an dem du meinen Armreif trägst.»

Ich streckte ihn ihr hin und sie zog mir den goldenen Reif mit dem Obsidianraben vom Handgelenk. Der Rabe war so starr, wie es ein Steinrabe zu sein hatte. Nichts hatte seit ich hier angekommen war darauf hingedeutet, dass er sich bewegen, geschweige denn die Augen aufschlagen konnte. Vom roten Granat, der die Augen bildete, war keine Spur zu sehen. Finëa liebkoste den steinernen Raben mit ihren Fingern während sie sprach. «Ich habe mir folgendes überlegt: Ich werde dein Versprechen und den Zauber, der dich nach Hause bringen wird in diesen Armreif einweben und wenn du dein Versprechen erfüllt hast und den Armreif berührst, wird er dich nach Hause bringen.»

Das klang doch ganz gut und sobald ich eingewilligt hatte, begann Finëa mit dem Zauber für den ich einen unbrechbaren Schwur leisten, sowie ein paar Tropfen meines Blutes hergeben musste. Sie tat das gleiche, und mir wurde bewusst, dass es sich bei diesem Zauber um dunkle Magie handelte.

«Der Zauber muss über meinen Tod hinaus bestand haben, deshalb muss er mit deinem und meinem Blut verwoben werden», erklärte Finëa, die meine Gedanken erraten hatte. Danach gab sie mir den Armreif zurück und ich streifte ihn wieder über und prompt wandte der Rabe mir seinen Kopf mit den Granataugen zu. Er öffnete sogar seinen Schnabel und ich glaubte wie aus weiter Ferne ein Krächzen zu vernehmen.

«Er wird bei dir bleiben und dich beschützen», meinte Finëa nachdenklich mit Blick auf den Raben. «Was immer das für deine Zukunft bedeuten mag.»

Danach wurde sie ganz geschäftsmässig und überreichte mir einen Stundenplan zusammen mit einer Liste mit Schulbüchern, die ich bestellen sollte und einem kleinen Beutel Geld, der die Bezahlung für die Bücher enthielt. Elaine und Xameria würden mir sicher alles weitere erklären, sagte sie und damit war ich entlassen und fand mich mit einem Stundenplan und einer Bücherliste auf dem Flur wieder. Zaubereiunterricht im 11. Jahrhundert, dass konnte ja heiter werden.


Unbequeme Wahrheiten - Adrienne Seanorth 2 (HP FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt