Vorahnung

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Engel sind prinzipiell weder gut noch böse in irgendeiner absoluten Form. Sie haben lediglich die besondere moralische Fähigkeit, ohne externen oder internen Einfluss nach vorher festgelegten, schwer veränderlichen Maximen zu handeln.

Die Luft war klar, die Sonne schien vom Himmel, mit einer Wärme, die man vom deutschen Sommer in der Mitte des Klimawandels erwarten konnte. Wenngleich an vielen Orten die Hitze sicher schlimmer war, so bevorzugten auch an diesem Bahnhof viele Menschen den Schatten der Bahnsteigüberdachungen oder des angrenzende Gebäudes.

Nicht Lara. Sie stand fast ganz alleine vorne am Bahnsteig, nicht unter dem Dach, direkt am weißen Strich, den man zur eigenen Sicherheit nicht übertreten sollte. Lara schien die Sonne egal zu sein.

Die warme Stimme des Bahnhofsansagers schallte aus den Lautsprechern und kündigte die Ankunft des nächsten Zuges mit vier Minuten Verspätung an. Lara wandte sich in die Richtung, aus der das genannte Fahrzeug einfahren würde, und trat von einem Fuß auf den anderen.

Die Menschen am Bahnhof warteten noch dreißig Sekunden, ehe sich das rote Fahrzeug am Ende der Kurve etwa siebenhundert Meter entfernt zeigte. Lara trat einen Schritt zurück und blickte regungslos geradeaus. Sie bewegte ihre rechte Hand und ein Lichtflimmern spielte um ihre Finger.

Der Zug hielt und die Türen öffneten sich. Lara blickte nur einmal nach rechts. Ein Mann in der Menge der aussteigenden Menschen erwiderte den Blick und bewegte sich auf die Treppen zu. Lara folge ihm und traf kurz nach den Stufen mit ihm zusammen. Nebeneinander verließen sie den Bahnhof.

Der Mann, der jetzt stumm neben Lara her ging, war durchaus eine Erscheinung. Seine Kleidung bestand aus einem Anzug, der so perfekt aussah, dass er ihn vermutlich mehrere Tausend Euro in den Modezentren Europas gekostet hatte. Sein weißes Hemd war von nicht geringerer Qualität, dazu trug er eine ebenso weiße Krawatte, das wohl einzig Ungewöhnliche an seinem Outfit. Der Mann hatte pechschwarze Haare, die er zu einer eleganten gegelten Kurzhaarfrisur drapiert hatte. Sein Gesicht war vollkommen rasiert, bis auf einen gestutzten Kinnbart. Die Gesichtszüge des Mannes waren zwar erhaben, aber auch streng. Seine dunklen Augen blickten zugleich aufmerksam umher und dennoch schien er immer in Gedanken versunken zu sein.

Die perfekt polierten Schuhe des Mannes machten trotz ihrer edlen Erscheinung keinen einzigen Ton auf Asphalt, Beton oder Steinen, über die die beiden jetzt gingen. Sein Gang war klar und bestimmt, seine Haltung mit präziser Anspannung. Die Finger beider Hände bewegte er beim Gehen fast unmerklich herum. Im Vergleich zu Laras kleiner, unsicherer Erscheinung war alles an ihm ein absolutes Kontrastprogramm.

"Gut, dass du dich noch sehen lässt." Es war das erste Wort, dass die beiden wechselten; der Mann hatte gesprochen.

"Ich halte nichts von Weglaufen und Verstecken."

"Du bist ein Typ-2. Wenn du dich versteckst, kommt ein antihumaner Typ-7 und hat dich in vier Sekunden gefunden." Der Mann atmete betont ein und aus. "Du hast keine weise Entscheidung getroffen."

"Es war die Entscheidung des Anti-H's, mich in Gegenwart eines Typ-0 zu konfrontieren. Ich bin an meine Moral gebunden, genauso wie du."

Der Mann schwieg einen Augenblick. Dann sprach er weiter, etwas schneller als zuvor. "Die Situation ist nicht mehr so entspannt wie zuvor. Nach deiner Rettungsaktion mussten wir einige der besten Typ-3-er zusammenkratzen, um die Erinnerungen von fast fünfzig Menschen zu löschen. Weißt du, was das für eine Arbeit war? Aber das ist nicht alles. Ich sage es mal so: Deine Aktion hat einigen... nicht gefallen. Ich habe Berichte von mehreren Altrus, die die Zeugen jagen und allgemein eher wie Anti-H's wirken."

Lara wirkte erschüttert und ihre Schritte verlangsamten sich. Der bestimmte Gang des Mannes duldete jedoch keinen Widerspruch und sie holte wieder auf.

"Verstehst du, was ich denke?" Der Mann sprach immer noch mit absoluter Gefasstheit, trotz des ernsten Themas. "Auch meine Macht ist begrenzt. Ich kann die Erzengel nicht in Schach halten. Wenn die Altrus da oben dich als Bedrohung, als ein Grauer ansehen, dann sieht es schlecht aus."

"Was an einem Grauen ist so schlimm?"

Der Mund des Mannes wurde noch härter, als er ohnehin schon war.

"Du hast viele Feinde. Ich werde nicht einer von ihnen sein, aber diejenigen, die es sind... Mit ihnen ist nicht zu spaßen."

Die beiden gingen einen Moment still nebeneinander her.

"Ich bin vorbereitet, du hast mich ja ausgebildet!" Aber auch Lara klang nicht mehr positiv.

"Es muss reichen. Noch einmal, ich rate dir, verstecke dich, wechsle den Standort, aber bitte lass diesen Menschen zurück. Du weißt wie das läuft, es wird auf beiden Seiten nur Trauer verursachen."

Lara ließ den Mann nicht einmal richtig enden. Sie rannte zwei Schritte voraus, drehte sich um und stellte sich ihm in den Weg. Obgleich er anderthalb Köpfe größer als sie war, merkte man, dass es keine gute Idee war, Lara aus dem Weg zu schieben oder sie zu ignorieren. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie es ernst meinte.

"So, jetzt rate ich dir mal was, Herr Professor Doktor Markus Kühnwald. Dieser Mensch ist für mich wichtiger als irgendwelche Erzengel, die nicht randalieren sollen. Wenn sie mich umbringen wollen, los, auf gehts, sie sollen sich erstmal mit meiner Türkismagie anlegen. Ich kämpfe zwar auch für die Menschheit, aber zunächst einmal kämpfe ich für Jonas, den wichtigsten Menschen auf der ganzen Welt! Auf Wiedersehen, Professor!"

Mit diesen Worten drehte sie sich um und stampfte betont davon. Nicht ein einziges Mal blickte sie zurück.

Prof. Kühnwald stand einige Sekunden regungslos da, während er ihr hinterher sah. Er wandte den Blick ab und atmete hörbar aus, es war mehr ein Schnauben. "Und was stellt sie als nächstes an", murmelte er mürrisch vor sich hin. Dann richtete er sich wieder auf, als müsste er gleich eine Rede halten, obwohl er ganz allein stand und niemand in seine Richtung blickte. Er hob eine seiner eleganten schlanken Hände, schnippte mit den Fingern und bewegte diese quer vor der Brust. Noch bevor irgendein Mensch bemerkt hätte, dass sein Körper weiß glühte, schlangen sich Lichtranken um denselben und innerhalb eines Wimpernschlags war er verschwunden. Nichts deutete darauf hin, dass hier gerade noch Prof. habil. Dr. Markus Maria Kühnwald, renommierter Politikwissenschaftler und Psychologe, gestanden hatte.

Blue Angel - Eine kurze GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt