Das Leben geht weiter

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HIER RUHT ANNIE

GELIEBTE MUTTER
UND NICHTE

Der Junge wandte den Blick vom Grabstein seiner Mutter ab.
"Kommst du, Tante Rachel? Es fängt an zu regnen.", sagte er sanft.
Lady Rachel Gladstone, eine Frau fortgeschrittenen Alters, deren dunkles Haar von feinen grauen Strähnen durchzogen war,
tupfte sich eine Träne von der Wange und nahm die Hand des Jungen.
Sein Haar war schwarz und sene Augen waren von durchdringendem Blau.
Er hieß Seth. Nur Seth. Ebenso wie seine Mutter hatte er keinen Nachnamen.
Seine Mutter stammte aus Nottingham, sie hatte in der Burg gearbeitet.
Als Seth auf die Welt kam, zog sie zu ihrer Tante Rachel.
Ihr Sohn war behütet aufgewachsen und hatte eine ruhige Kindheit.
Er hatte alles, was er sich wünschte, bis auf eines.
Seine Mutter und Tante Rachel erzählten ihm, was immer er wissen wollte,
nur eine Frage war verboten:

Wer ist mein Vater?

Auch wenn er sich damit abgefunden hatte,
dass er auf diese Frage keine Antwort erhalten würde - zumindest nicht von einer der beiden Frauen - ,
wusste er, dass er vom Aussehen her nach seinem Vater kommen musste,
denn seine Mutter war blond gewesen und hatte grünbraune Augen gehabt.

Seine Tante sah ihn an und wischte ihm die Tränen weg, die er nicht hatte zurückhalten können.
"Du hast Recht, wir sollten gehen." Sie lächelte. "Du bist ein guter Junge."

Der Tod seiner Mutter war vier Jahre her.
Seth war sechzehn Jahre alt.
Er dachte an ihr Begräbnis zurück, als er vor dem Grab seiner Tante stand.
Vor zwei Wochen hatte der Tod auch sie zu sich geholt.
Seth legte einen Kranz aus weißen Rosen auf den frischen Grabhügel und ging zurück ins Dorf.
An dem Tag, als Tante Rachel gestorben war, hatte er die Entscheidung getroffen, zurück nach Nottingham zu ziehen.
Seit der Rückkehr des Königs war es eine fröhliche, reiche Gegend.
Seth dachte an die Erzählungen von Robin Hood und der Zerstörung von Nottingham Castle.
Robin Hood war heldenhaft gestorben, am selben Tag wie der alte Sheriff von Nottingham.
Die Burg war wieder aufgebaut worden und die 'Outlaws', Robins Freunde, welche überlebt hatten,
erhielten Ländereien und Reichtum von King Richard höchstselbst.
Den Geschichten zufolge hieß Robin Hoods treuer Freund Much jetzt Lord of Bonchurch,
John Little, genannt Little John, war zu seiner Frau und seinem Sohn gereist, nachdem er erfahren hatte, dass ihr neuer Mann gestorben war. Kate lebte wieder im Haus ihrer Mutter.
Und es gab wohl nur noch wenige Einwohner in Nottingham, die in Sir William of Locksley und seiner Frau den ehemaligen Tischler und Outlaw Will Scarlett und die Sarazenin Sophia, die sich Djaq nannte, erkannt hätten.

Seth legte den Kopf in den Nacken und sah zu Bonchurch Hall empor.
Ein imposantes Gebäude, zweifellos.
Eine Frau kam aus dem Gebäude und fragte ihn, wer er sei.
"Mein Name ist Seth. Seid Ihr Lady Eve? Meine Mutter hieß Annie, sie war Dienstmagd in Nottingham Castle."
"Die bin ich. Und Annie habe ich gut gekannt." Eve lächelte. "Warte...sie hieß Annie, bedeutet das..."
Seth nickte nur. "Vor etwas mehr als vier Jahren. Sie hatte hohes Fieber und dann..."
Eve senkte den Blick. "Das tut mir leid. Was kann ich dir Gutes tun? Komm doch rein."

Much of Bonchurch war seit dem Tod seines ehemaligen Masters und besten Freundes ein ernster und ruhiger Mann geworden, der wenig sprach und selten lächelte.
Doch dann kam King Richard aus dem heiligen Land heim und Much heiratete Eve, die wieder Licht in sein Leben brachte.
Als Eve ihm Seth vorstellte, musterte er das Gesicht des Jungen eine ganze Zeit lang,
behielt jedoch für sich, was er dachte.
Er bot Seth an, auf Bonchurch zu bleiben.

"Was führt dich hierher?", fragte Much Seth später, als sie beisammen saßen.
"Ich möchte herausfinden, wer mein Vater war." Seth sah Much an, dass dieser etwas wusste.
"Bitte", fügte er deshalb hinzu, "Wisst ihr etwas darüber?"
Der neue Herr von Bonchurch zögerte.
"Ja", sagte er dann. "Deine Mutter hieß Annie und du heißt Seth...wenn ich das nicht wüsste, dann wüsste ich spätestens nachdem ich dich gesehen habe, wer dein Vater ist. Du siehst ihm sehr ähnlich."
Seth sah ihn abwartend an, obwohl er vor Ungeduld fast das Gefühl hatte, zu zerspringen.
"Du bist der Sohn der ehemaligen rechten Hand des Sheriffs, Sir Guy of Gisborne."

Die Reaktion auf diese Antwort war von Seths Gesicht abzulesen:
Er kannte Gisborne nicht, hatte nur Geschichten über ihn gehört, und zwar nicht die nettesten...
'Guy of Gisborne', formten seine Lippen stumm.
Nein, damit hatte er nicht gerechnet.
"Ich bin..der Sohn dieses..."
Much nickte, versuchte, den fassungslosen Seth zu beruhigen.
"Mein Vater war ein Bastard, ein Mörder!"
Much sah in die Augen des Jungen.
Sie hatten so viel Gefühlstiefe, ganz andes als der immer gleiche, kalte Blick seines Vaters.
Seine Gesichtszüge waren ausdrucksvoller, kindlicher, aber Much hatte das Gefühl,
einem zwanzig Jahre jüngeren Gisborne gegenüberzustehen.
Der Sohn des Mannes, der Robin im heiligen Land verletzt hatte. Der Mann, der ihm Alles genommen hatte, sogar seine Frau. Der Mörder von Marian und so vielen Anderen. Der Mann, der ihn so oft verfolgt hatte, nicht nur real, auch in unruhigen Träumen.
...der Mann, der sich gegen Prinz John und den Sheriff gestellt hatte, der einen Heldentod gestorben war, weil er Robin gerettet hatte.
"Nein, Seth." sagte Much schließlich. "Dein Vater war ein Held."

Robin/Marian One ShotWhere stories live. Discover now