Epilog

4.4K 213 26
                                    

Dass die Zeit nur eine beliebige Maßeinheit für das Voranschreiten der Dinge war, wurde mir bereits in vielen Momenten meines Lebens bewusst.

Die Zeit vergeht schneller, wenn man Spaß mit Freunden und Familie hat, wenn man seinem Hobby oder seiner Leidenschaft nachgeht oder auch wenn man absichtlich versucht, die Zeiger langsamer wandern zu lassen.

Hingegen verlangsamt sich die Zeit, wenn man auf etwas wartete, was sich erstaunlich viel Zeit bei seinem Eintreffen ließ. Beispiele hierfür wären langweilige Unterrichtsstunden, die man größtenteils damit verbrachte, die Uhr über der Tür anzustarren und zu versuchen, die Zeiger telepathisch schneller bewegen zu lassen.

Ebenso in diese Kategorie fallen miserable Dates, bei denen man sein Gegenüber am liebsten auf den Mond schießen wollte, es aber aufgrund von Anstandsregeln und sittlichen Vorstellungen nicht konnte und man somit Sitzfleisch beweisen musste.  

Sekunden konnten schnell zu Minuten, Minuten zu Stunden und Stunden zu Tagen werden. Genauso konnten sich ein Tag wie wenige Minuten oder eine Minute wie eine einzige Sekunde anfühlen. Ich für meinen Teil hatte in den letzten Wochen genug Zeit damit verbracht, das Prinzip der Zeit zu hinterfragen.

An Kuns Bett war es mir so vorgekommen als würden die Tage wie eine zähe, klebrige Masse an mir vorbeiziehen, die mich nicht loslassen wollte und mir jegliche Lebensenergie genommen hatte.

Nun, wo Kun von den Toten wiederauferstanden war und zusammen mit Lia, Cole und mir immer weiter in Richtung Seattle fuhr, kam es mir so vor, als hätte der Hamster, der das Rad der Zeit in Bewegung hielt, plötzlich zu viele seiner Getreidekörner gefressen und seine besten Laufschuhe angezogen, um zu Höchstleistungen auflaufen zu können.

Inzwischen waren wir seit über einer Woche unterwegs und an der Grenze von Oregon zu Washington angekommen. Nach etwa drei Stunden Autofahrt direkt an der Pazifikküste entlang erreichten wir eine verschlafene Kleinstadt namens Garibaldi, die im Gegensatz zu Los Angeles wie eine Pilgersiedlung aus dem 18. Jahrhundert wirkte.

Kun fuhr den Wagen auf den Parkplatz vor einem kleinen Motel, welches vermutlich – dieser Ort würde schon kein großer Touristenmagnet sein – derzeit noch unbewohnt war.

Als Ältester der Gruppe marschierte er voran in Richtung Motel und wurde dabei von Lia verfolgt, die Kun die Kompetenz, zwei Zimmer allein und ohne fremde Hilfe zu reservieren, nicht zusprach und deshalb selbst an dem Geschehen beteiligt sein wollte.

Cole und ich blieben draußen zurück. Garibaldi lag nicht nur direkt an der Küste, sondern auch an einem großen See, auf dessen Wasseroberfläche sich dünne Nebelschwaden gebildet hatten. Der Himmel war bedeckt von grauen Wolken und mein Atem hinterließ kleine Wölkchen in der Luft, da die Temperaturen nicht weit weg vom Gefrierpunkt lagen.

Ich schlang die Arme um meinen Körper und trat ein wenig näher an das Ufer des Sees heran.

»Es ist schön hier, oder?« Cole erschien plötzlich hinter mir und schlang seine Arme um meinen Körper, wodurch ich augenblicklich seine Wärme durch den Stoff meines Pullovers spüren konnte.

»Bisher gab es keinen Ort auf dieser Reise, den ich nicht schön gefunden habe«, erwiderte ich und spürte, wie Coles Mundwinkel an meiner Wange zuckten. »Nur hätte ich nichts gegen fünf oder sechs Grad mehr einzuwenden«, hing ich an und drückte mich enger an Cole heran, der eine hervorragende Heizung abgab.

»Diesem Ort fehlt einfach ein bisschen Hitze. Vielleicht sollten wir eine Weile hierbleiben, damit ich dieses Städtchen hier mit meiner Anwesenheit erwärmen kann«, überlegte Cole laut, was mich wiederum zum Lachen brachte.

»Bestimmt erwärmst du auch die Herzen zahlreicher Frauen hier im Ort. So ein Prachtexemplar von Mann kommt hier sicher nicht oft vorbei«, entgegnete ich äußerst sarkastisch und verdrehte belustigt die Augen.

Kasey McMillenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt