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Lien kam nicht zurück

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Lien kam nicht zurück.
Nicht in der nächsten Stunde, nicht im Verlauf des Tages.

Nach seinem abrupten Aufbruch sind wir wieder in das Schweigen zurückgefallen. Keiner hat Partei für ihn ergriffen, auch wenn ich glaube, dass einige - so wie ich - Leons Reaktion respektlos fanden. Ich weiß nicht, ob es allgemein an Leon liegt oder an der Tatsache, dass er Lien ausgelacht hat.
Beides irgendwie, glaube ich. Auch wenn Lien seinerseits einige Sachen gesagt hat, denen ich persönlich nicht zustimme.

Eigentlich will ich mich damit auch nicht beschäftigen, während die Trauer mir das Atmen schwierig macht. Ich habe nichts gegen die Stille, ich fühle mich ausgeglichen, als würde ich in der Ruhe mit mir ins Reine kommen. Aber gleichzeitig, ob es an der Stille liegt oder nicht ist mir gleich, wird es immer schwieriger ein Lächeln auf mein Gesicht zu zwingen. An Schlaf ist nicht zu denken. Nach und nach ziehen sich die anderen zurück, bisher hat sich noch keiner getraut, Alexejs Zimmer für sich zu beschlagnahmen. Die Sterne bedecken den Himmel, gemeinsam mit der unendlichen Schwärze der Nacht.

Als auch Álvadro sich verabschiedet, lasse ich mich nach hinten sinken, das Gras kitzelt mein Ohr. In der ersten Nacht saß ich hier mit Alexej und ich erinnere mich noch genau an den Sternenregen, wie ich ihn heimlich genannt habe. Es waren eigentlich nur hunderte Sternschnuppen, doch der Moment hat etwas in mir berührt. Und die Tatsache, dass Alexej den Moment mit mir erlebt hat, hat uns miteinander verbunden. Dieses Band ist nun gerissen, für alle Ewigkeit.
In einer Nacht ist er auch von uns gegangen. Und deswegen, genau aus diesem Grund, fühle ich mich nun mit dem Sternenhimmel verbunden, mit der Nacht.

Die Sterne fühlen sich an wie das Zuhause, das wir geteilt haben, die Welt, in der nur wir gelebt haben. Ich habe Alexej geliebt, auf eine merkwürdige und vielleicht auch kranke Art und Weise. Krank, weil ich abhängig von ihm war, er, als mein erster Freund. Mein ganzes Vertrauen hab ich in diese Freundschaft gesetzt. Und jetzt ist es weg.

Der Sternenregen kommt zurück. Der Himmel ist erstrahlt, wie auf meinen Wunsch hin. Ich frage mich, ob da nicht mehr dahintersteckt. Hinter all diesen winzigen irrealen Ereignissen, die so viel mehr sind, als nur Natur. Sie sind Schönheit, Hoffnung und Dankbarkeit.

„Man könnte meinen, das ist alles, was der Mensch begehrt. Und doch ist es so viel weniger, nicht?"
Lien taucht aus dem Nichts auf und setzt sich neben mich.
„Ich dachte, mittlerweile sind alle schlafen", gibt er zu, während ich den Kopf neige.
„Was meinst du damit?", frage ich.
„Äh- dass alle schon weg sind und ich ungestört in mein Zimmer komme", sagt Lien, betont es aber eher wie eine Frage.
„Das davor."
„Oh, ach so. Ich meine, dass das hier doch so gut wie der Traum von jedem Menschen ist. Natur, Freundschaft, Entspannung. Und doch reicht das einem nicht. Also mir zumindest nicht, wie es mit dir aussieht, weiß ich nicht."
„Du redest ziemlich viel für deine Verhältnisse heute", stelle ich fest, ohne auf seine Worte einzugehen.
„Stimmt. Das ist nur ne Phase, manchmal habe ich so Tage. Morgen wirst du dir wahrscheinlich wünschen, dass ich so viel rede", meint er und lacht leise.
„Wieso sollte ich mir das wünschen?"
„Naja, sei mal ehrlich, diese Stille ist echt nicht auszuhalten."
„Ich finde sie erholsam.", sage ich und schließe sie Augen.

„Ich sollte dann mal gehen", murmelt er nach einer Weile. Seine Anwesenheit war zwar angenehm, aber ich nicke nur, tue nichts, um ihn aufzuhalten, auch wenn ich das Gefühl habe, dass er darauf wartet. Ich nicke erneut und setze mich auf. Starre in die Dunkelheit, während seine Schritte immer leiser werden.

Ich schwebe. Ruhelos und doch ausgeglichen. Ich bin so leicht, dass ich jeden Moment losfliegen könnte. Gleichzeitig fühle ich mich aber auch so unglaublich schwer.
Die Realität, sie ist so etwas verzwicktes. Ist es das hier? Ist es dort, wo mein Körper sich seit Tagen nicht bewegt hat, weil mein Geist hier ist? Ist die Realität in meinen Gedanken?

Ich stütze mich in das Gras und stehe auf, atme die kühle Atemluft ein, die so real riecht. Sobald ich die Taschenlampe habe, die im Haus lag, mache ich mich auf den Weg. Lasse mir Zeit, weil mein Zeitgefühl den Geist aufgegeben hat. Ist die Zeit hier überhaupt mit der in der richtigen Welt zu vergleichen? Sind dort vielleicht erst Stunden vergangen, oder schon Jahre?
Ich fühle mich so ausgelaugt. Alexej hat einen Platz in meinem Herzen eingenommen, der jetzt leer ist. So unglaublich leer.

Meine Füße tragen mich, das betäubende Gefühl, das ich früher bei Abendspaziergängen immer hatte, ist nun wie weggeblasen. Als hätte Alexej mir auch das geraubt, so wie beinahe alles andere auch.
Ich weiß den Weg, bin ihn im Kopf unendlich oft durchgegangen. Wie jede andere Zeit mit Alexej. Ich bin es durchgegangen, auf der Suche nach etwas, was ich übersehen habe. Etwas, das mir den Weg zeigt, den ich einschlagen soll. Denn anstatt einer Weggabelung hat sich vor mir eine Sackgasse gebildet. Und der Weg zurück ist steinig.

Ich habe die Wahrheit zu lange verdrängt. Ich bin einsam. Nach Theo...ich weiß nicht, ob ich jemals einen Tag hatte, an dem es mir gut gegangen ist. Und das lag nicht an seinem Tod - jedenfalls nicht nur. Es lag daran, dass ich mich so lange angelogen habe, dass ich die Zeit vergessen habe, die mir davonrennt, wenn ich damit beschäftigt bin, die Vergangenheit zu verdrängen.
Ich hätte es ansprechen sollen. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Theo an diesem Tag zu Hause geblieben. Wusste er es?
Wusste er, dass er adoptiert war? Dass seine eigentlichen Eltern bei einem Hausbrand umgekommen waren?

Meine Füße tragen mich zu dem See mit dem kleinen Wasserfall. Ich nehme einen Stein in die Hand und werfe ihn plump ins Wasser. Er gibt ein komisches Geräusch von sich, bevor er sinkt.
Konnte der Tod nicht immer so laut sein? Vorwarnen, bevor er kam? Anstatt im Nachhinein zu sagen: Es ist zu spät, zu spät für dich.
Bei Theo und bei Alexej.
Zu spät.
Zu spät, zu spät, zu spät.

Die Vergangenheit ist vorbei, die Gegenwart macht es nicht besser.
Wieso gibt es dann eine Zukunft?

Alexej hatte keine Zukunft, Theo nicht.
Leon beinahe auch nicht, wegen mir.
Habe ich die Zukunft verdient? Bin ich bereit?

Für die Zukunft brauchte ich die Wahrheit.
War ich bereit zu akzeptieren?
Dass Theos eigentlichen Eltern bei einem Hausbrand umgekommen waren? Und dass dieser Brand auch an Leons Brandnarben schuld war?
Dass Theo nicht mein Bruder war, aber dafür Leons?
Dass meine Eltern ihnen ihre gemeinsame Zukunft geraubt hatten, indem sie beschlossen den einen Bruder zu adoptieren, den anderen aber nicht?

War ich bereit zu akzeptieren?Dass Theos eigentlichen Eltern bei einem Hausbrand umgekommen waren? Und dass dieser Brand auch an Leons Brandnarben schuld war?Dass Theo nicht mein Bruder war, aber dafür Leons?Dass meine Eltern ihnen ihre gemeinsame...

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cold time wishesWhere stories live. Discover now