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Ethan war noch nie verliebt. Deshalb wusste er auch nie, wie sich ein gebrochenes Herz anfühlt. Doch eines kann er jetzt mit Sicherheit sagen, er mag dieses Gefühl so gar nicht.

Schlimmer ist es noch, als er am nächsten Tag in der Schule Ella gegenüber treten muss. Er kann nicht- nein, er traut sich nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ihre Worte, ihre Lügen haben ihn so sehr verletzt. Am meisten war er jedoch enttäuscht über sich selbst, dass er sich dazu hat hinreißen lassen, solche Gefühle für Ella zuzulassen.

Sie ist zu hübsch, zu klug, zu nett für ihn. Es ist ein Fehler gewesen, davon auszugehen, dass sie mehr als nur mit ihm befreundet sein will. Er ist also allein selbst schuld.

Und auch das Stottern hat sich nicht lumpen lassen. Sobald er zu Hause war, konnte er kein komplettes Wort am Stück sagen. Seine Zunge und Kopf blockierten, das Stottern war zurück und stärker als im ganzen Jahr zuvor.

Doch reden will Ethan jetzt sowieso nicht mehr. Zumindest nicht mit Ella. Schließlich gibt es nichts mehr, was zu sagen gewesen wäre. Deshalb stellt er auch seine Schultasche auf den freien Stuhl neben ihm. Er weiß nämlich, dass Ella immer etwas zu sagen hat. Es ist das Beste so, findet er, auch wenn er die Welle der Enttäuschung, die ihm von Ella entgegen schwappt, deutlich spüren kann.

Ethan ist im Unterricht nicht bei der Sache. Am liebsten wäre er zu Hause geblieben, aber solange er seiner Mutter nicht erzählen kann, was passiert ist, schickt sie ihn unbarmherzig in die Schule. Dafür ist Olivia in Höchstform.

In der Pause fängt sie ihn gemeinsam mit Ronny vor seinem Spind ab.

"Stotti!", ruft sie erfreut, als würde sie sich wirklich freuen, ihn zu sehen. Ethan weiß, dass das alles gespielt ist. Wie noch so vieles mehr, wie er von Ella gestern erfahren hat.

Nicht. an. Ella. denken! Immer wieder muss er sich ermahnen.

"Stotti, du bist heute so still. Sag doch mal was."

Du bist eine Waise. Du lügst alle an. Ich weiß alles, will er sagen und tut es doch nicht. Stattdessen blickt er ihr stumm ins Gesicht.

"Dir hat es wohl die Sprache verschlagen bei meinem Anblick, nicht wahr?", redet Olivia ungerührt weiter. "Hat dir denn niemand beigebracht, wie man mit anderen Menschen redet?"

Ronny grunzt dümmlich. Ethan reagiert nicht.

"Du bist widerlich. Und dumm. Deshalb will Ella auch nicht mehr neben dir sitzen, habe ich nicht recht. Endlich hat sie gesehen, was für Abschaum du bist. Gut für sie." Als hätte sie Ethan gerade nicht zutiefst beleidigt, klimpert sie unschuldig lächelnd mit den Wimpern. Dann zieht sie Ronny am Arm davon.

Ethan atmet zitternd durch. Hätten sie ihn nicht verprügeln können? Dann hätte er zumindest einen äußerlichen Beweis für seinen Schmerz. Nein, stattdessen reißen die Wunden in seinem Inneren noch weiter auf. Ethan wischt sich schnell über die Augen.

Biologie schwänzt er heute. Wenn jetzt auch noch der Lehrer auf ihm herum hackt, könnte er das nicht aushalten.

Zuhause begibt er sich sofort in sein Zimmer. Noch nicht einmal "Hallo" kann er seiner Mutter sagen. Er setzt sich an den Schreibtisch und holt ein leeres Blatt Papier hervor.

Für einen Moment zweifelt er, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, Olivia nicht zu antworten. Er könnte sie erpressen mit seinem Wissen. Sie dazu auffordern, mit den bösartigen Kommentaren aufzuhören oder er lüftet ihr Geheimnis.

Aber so ist er nicht. Das kann er nicht. Schon während dem Gespräch mit Ella am Strand, wusste er, was er stattdessen machen will. Und zwar das, was er am besten kann.

Er nimmt seinen Stift und beginnt zu schreiben. Es gelingt ihm nicht beim ersten Versuch, auch nicht beim zweiten. Tatsächlich braucht er bis Donnerstagabend, bis die Worte genug und richtig erscheinen. Dann faltet er das Papier zweimal und schreibt Olivias Namen vorne drauf.

Ausnahmsweise denkt er während dem Einschlafen nicht mehr darüber nach, ob er etwas anderes hätte formulieren, einen Satz umstellen oder ein anderes Wort hätte verwenden sollen. Zum ersten Mal diese Woche schläft er ruhig ein. Auch am nächsten Morgen geht er fast entspannt in die Schule und wirft den Brief durch den kleinen Schlitz in Olivias Spind. Denn er ist sich ziemlich sicher, dass seine Worte bei Olivia Wirkung erzielen werden.

Und wenn nicht kann er ja trotzdem noch mal über die Erpressung nachdenken.

***

Liebe Olivia,

sicher wunderst du dich, warum ausgerechnet ich dir einen Brief schreibe. Ich fände es toll, wenn du ihn erst zu Ende liest, bevor du ihn wegschmeißt oder dich über mich lustig machst.

Ich weiß, wir waren nie beste Freunde, noch nicht einmal annähernd Freunde. Ich weiß auch, dass sich das wahrscheinlich nicht mehr ändern wird. Doch ich weiß erst seit kurzer Zeit, dass wir uns eigentlich schon länger kennen als seit der fünften Klasse.

Bitte verzeihe mir diese Unwissenheit, sonst hätten wir vielleicht schon viel früher miteinander sprechen können. Ich trage zwar eine Brille, aber anscheinend brauchte es seine Zeit, bis sich mir die Augen tatsächlich öffneten.

Bitte entschuldige, dass ich deinen Namen vergessen und dich nie als das Mädchen erkannt habe, dass damals mit mir zur Adoption zur Verfügung stand. Allerdings kann ich mich nicht dafür entschuldigen, ausgewählt worden zu sein und ich hoffe, das verstehst du.

Es tut mir weh, erfahren zu haben, dass du nie eine richtige Familie gefunden hast, denn du hast es mindestens genauso verdient wie ich. Ich musste nur eine kurze Zeit ohne Eltern leben, also kann ich wahrscheinlich nicht verstehen, wie du dich fühlst. Doch ich möchte versuchen, es zumindest im Ansatz zu verstehen.

Olivia, ich möchte dir gerne sagen, dass ich verstehe, warum du dein Leben, dein Zuhause, deine wahre Herkunft versteckst. Ich versuche immerzu mein Stottern zu verbergen, und doch ist es ein Mitbringsel aus meiner Kindheit.

Ich kann nichts für diese Kondition, es ist keine Krankheit, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein Sprachfehler, und trotzdem versuche ich ständig, mein Sprechen zu verbessern. Ich versuche auch, mich in der Schule so unsichtbar wie möglich zu machen. Ich versuche, mich so gut zu schützen wie ich kann, damit alle Kommentare von mir abprallen.

Doch es gelingt mir nicht und ich weiß, dass es das ist, was du erreichen willst. Ich fühle mich jeden Tag schlecht und minderwertig; ich soll mich so fühlen, wie du dich damals gefühlt hast, als du nicht in eine Familie aufgenommen wurdest.

Olivia, wir beide wissen, dass mein Stottern nicht der Grund für dein Mobbing ist. Ich weiß, dass es unfair ist, dass nicht jeder von uns eine Familie hat. Dass es unfair ist, alleine aufzuwachsen und auf sich selbst gestellt zu sein. Es ist aber auch unfair, dass ich alleine diese Ungerechtigkeit tragen muss.

Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich will dir dein Geheimnis nicht wegnehmen oder es irgendjemandem erzählen. Ich will dir stattdessen etwas anbieten. Ich weiß, es kann nie das wettmachen, was du in deinem Leben schon erfahren hast oder was dir fehlst, aber vielleicht kann ich meine Familie mit dir teilen.

Wenn du willst und bereit bist, darfst du jederzeit gerne zu uns zu Besuch kommen. Vielleicht für ein Abendessen.

Ich glaube, du bist ein tolles Mädchen und alleine, weil du schon dein ganzes Leben auf eigenen Beinen stehst, hast du meinen größten Respekt verdient.

Liebe Grüße,

Ethan

PS: Meine Mutter kann sich nämlich noch an dich erinnern und das muss bedeuten, dass du schon als 5-Jährige einen einzigartigen Eindruck hinterlassen hast.

PPS: Ella hat mit diesem Brief nichts zu tun. Wenn du weiterhin wütend auf mich bist, verstehe ich das. Wie auch immer du entscheidest, mit dem Brief umzugehen, es ist okay. Lass nur bitte Ella aus dem Spiel. 

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