3 | Shade

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Es war früh dunkel geworden, wie immer im Winter. Hinter dem Licht der extravaganten Weihnachtsbeleuchtung der Häuser um uns herum konnte ich die Sterne schwach sehen; der Mond warf ein fahles Licht auf Cess' Garten. Er selbst hatte keine Dekoration aufgestellt, wahrscheinlich, weil er gerade erst eingezogen war. Aber es war auch gar nicht nötig. Im Mondlicht sah der gepflegte Kunstrasen aus, als würde er leuchten.

Es war kalt, aber ich wollte Cess nicht glauben lassen, dass ich die Heizdecke brauchte, die er mir gegeben hatte. Ich war stark und unabhängig, konnte mich alleine durchschlagen, so wie ich es schon die letzten fünf Jahre getan hatte.

Zugegeben, ich brauchte Cess' Garten und die Erlaubnis, hier zu schlafen, auch wenn mir diese Tatsache nicht gefiel. Ich wollte nicht auf seine Hilfe angewiesen sein, auf die Hilfe eines anderen Menschen, schlimmer noch, eines Immortals. Was ihn wohl dazu bewegt hatte, mich bei sich zu verstecken? Ich wollte es gar nicht so genau wissen. Bestimmt steckte irgendein skurriler Grund dahinter, den ich noch früh genug erfahren würde. Eine Folterkammer im Keller, geheime Experimente, eine Mafia, Drogen, Verschwörungen. Ich hatte genug Zeit, um mir Theorien auszudenken, denn schlafen konnte ich ohnehin nicht. Es war zu kalt.

Irgendwann griff ich dann doch zu Cess' Heizdecke und rollte seine Matte aus. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, darauf zu liegen war wesentlich bequemer. Die Decke war warm, weich und wahrscheinlich das Teuerste, was ich jemals in den Händen gehalten hatte. Bestimmt machte ich sie schmutzig. So, wie ich aus der Sicht der Immortals alles schmutzig machte.

Ich konnte auf keinen Fall zu lange hierblieben. Irgendwann würde Cess genervt von mir sein, und dann würde er mich melden. Zumindest wenn er mich nicht für irgendwelche anderen Zwecke brauchte.

Kein Immortal würde eine Mortal jemals freiwillig schützen. Wir waren es aus ihrer Sicht nicht wert. Obwohl viele Mortals trotz der Epidemien und Verbote weiter Kinder bekamen und es in vielen Erdteilen noch mehr sterbliche Menschen gab als hier, machte ich mir in dieser Hinsicht keine großen Hoffnungen. Früher oder später würden wir ausgerottet werden, denn das war es, was die Regierung wollte. Die Regierung wollte keine Mortals. Die Regierung wollte eine perfekte, unsterbliche Welt. Das war ihr Plan, ihre Utopie, in die sie so viel investiert hatten und die nur aus einem Grund scheitern konnte – wegen der Menschen.

Also versuchten sie, die Menschen zu kontrollieren. Aufzuteilen. Die Wertlosen sperrten sie aus und die Wertvollen ein.

Nein, ich konnte Cess nicht vertrauen. Auf keinen Fall.

Aber ich war zu müde, um heute noch zu fliehen.

Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Ich träumte von meiner Mutter, durchlebte die Szene, wie sie weggebracht wurde, in Endlosschleife, und plötzlich fiel mir auf, dass die Entführer blaugrüne Augen und ein schockierend charmantes Grinsen hatten. Cess entführte meine Mutter, und dann, plötzlich, war es Cess, der entführt wurde.

Ich träumte von meiner Flucht, dann vom Mord an meinem Vater, und dann träumte ich vom Zaun, der die Mortals von den Immortals trennte. Die Armen von den Reichen. Die Sterblichen von den Unsterblichen. Die Wertlosen von denen, denen das System gehörte. Wie widersprüchlich und gegensätzlich diese Welt doch war.

Immer wieder schreckte ich aus dem Schlaf hoch, weil ich Schritte hörte. Einmal sah ich hoch und meinte, Cess' Silhouette hinter dem Fenster zu sehen, doch am nächsten Morgen konnte ich nicht mehr sagen, ob es nicht doch nur ein Traum gewesen war.

***

»Guten Morgen, Shade.«

Ich riss die Augen auf und schaute mich erschrocken um. Mein müdes Gehirn brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo ich war.

Immortals - Solange wir leben [LESEPROBE]Where stories live. Discover now