4 | Cess

17 6 0
                                    

Ich wurde von der Türklingel aus dem Schlaf gerissen.

Das Erste, worauf mein Blick fiel, war eine dunkle Silhouette, die im Türrahmen meines Schlafzimmers stand. In meinem verschlafenen Zustand musste ich einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken, doch dann erkannte ich Shade, die dastand, in sich zusammengesunken, die Arme schützend um ihren schmalen Körper gewickelt.

»Sie kommen mich holen«, flüsterte sie.

Die ganze Szenerie hatte etwas von diesen schlechten Horrorfilmen, die mein Freund Gavin gerne schaute.

»Kaya, Uhr an«, befahl ich und die Leuchtziffern wurden an die Wand projiziert.

01:02

Die grüne Schrift tauchte den Raum in ein unheimliches Licht. Erneut zerfetzte das schrille Geräusch der Türklingel die Luft.

»Kaya, wer ist bei der Tür?«

»Gesichter konnten nicht gescannt werden. Personen unbekannt«, antwortete die Computerstimme mit ihrer üblichen Kälte.

»Wer spricht da?«, rief Shade. »Wer ist das? Mit wem redest du?«

»Nur meine Assistentin«, erwiderte ich in dem Versuch, sie zu beruhigen. »Ein Computer. Die sind in jedes Haus eingebaut. Ich habe sie schon einmal benutzt, als ich das Heilspray für dich gesucht habe. Erinnerst du dich?«

»Ach das ist es, was das war. Du hast was von einer Doppelagentin gesagt«, murmelte Shade.

Es klingelte zum dritten Mal.

»Kaya, blende ein, wer vor der Tür steht«, befahl ich. Meine Panik hatte sich gelegt und war einer verzweifelten Rationalität gewichen. In was hatte ich mich da nur reinmanövriert?

Die Leuchtziffern an der Wand wurden mit der Aufnahme der Überwachungskamera ersetzt. Auf der Liveübertragung waren zwei Personen in schwarzen Umhängen zu sehen, die sich miteinander unterhielten; die Kapuzen machten es unmöglich, ihre Gesichter zu erkennen.

Shade quiekte auf, als sie sie sah, und wich einige Schritte von der Wand zurück, bis sie fast direkt neben dem Bett stand.

»Auch nur Technik«, sagte ich. »Was sollen wir tun?«

»Denkst du, sie kommen rein, wenn du nicht öffnest?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme.

»Das musst du wissen. Du kennst diese Männer besser als ich.« Ich fuhr mir durch die Haare. »Bist du dir überhaupt sicher, dass es sie sind? Warum tragen sie diese Umhänge?«

»Ich habe keine Ahnung. Sonst habe ich sie immer nur in Anzügen gesehen. Vielleicht wollen sie nicht erkannt werden?«

Ich überlegte fieberhaft, aber es gab keine andere Möglichkeit. Ich musste da runter und ein weiteres Mal so tun, als wäre ich unschuldig. Wenn sie die Tür aufbrachen, wären wir geliefert.

Seufzend schlug ich die Decke beiseite und stand auf.

»Du solltest das echt nicht für mich tun. Du solltest dein Leben nicht für mich riskieren. Erst recht nicht nach gestern Abend«, rief Shade, aber da hatte ich das Zimmer schon verlassen und war auf dem Weg nach unten.

Vielleicht war es verrückt. Vielleicht war ich verrückt. Welcher Immortal riskierte schon bereitwillig sein Leben für eine Mortal? Erst recht für eine Mortal, die er wenige Stunden zuvor noch hatte zwingen wollen, sein Haus zu verlassen?

Aber ich war nicht so grausam, dass ich sie jetzt einfach ausgeliefert hätte. Ich bereute meine Worte von letztem Abend bereits wieder. Ich wollte nicht, dass sie zurück in ihren Stadtteil ging.

Und überhaupt, ich war ihr das hier schuldig, weil ich sie provoziert hatte, ihr das Gefühl gegeben hatte, minderwertig zu sein. Ich hatte es aus Gewohnheit getan, und zum Teil hatte ich auch einfach ihre Reaktion sehen wollen. Ich mochte es, wenn sie sich traute, mir Konter zu geben.

Gleichzeitig hatte ich mit ihr reden wollen. Mehr über ihr Leben in ihrem Stadtteil erfahren. Vielleicht hätte ich nicht so reagieren sollen, als sie meine Gesprächsansätze abblockte, aber irgendwie war ich in diesem Moment so frustriert gewesen, dass es einfach passiert war.

Viel zu schnell war ich bei der Haustür angekommen.

Just als das vierte Klingeln ertönte, drückte ich die Klingel herunter,

atmete tief durch

und riss die Tür auf.

»Tut mir leid«, murmelte ich gespielt verschlafen. In Wirklichkeit fühlte ich mich hellwach. »Ich hab geschlafen.«

Die beiden Gestalten vor der Tür sagten nichts. Stattdessen griffen sie wortlos nach meinen Armen.

»Hey!«, protestierte ich. »Ich habe nichts getan! Ich bin ein ehrlicher, unschuldiger Immortal!«

Reflexartig versuchte ich, mich aus dem Griff zu befreien, aber die beiden waren stärker als ich. Immer noch stumm zerrten sie mich aus dem Haus.

»Wohin bringen Sie mich? Das können Sie nicht einfach so tun! Das ist illegal!« Meine Gedanken rasten. »Wenn Sie mich mitnehmen, melde ich Sie bei der Polizei.«

»Klappe halten«, sagte einer der Männer mit von einem Stimmverzerrer entstellten Stimme. Dann wurde etwas in meinen Rücken gepresst, das sich anfühlte wie ... eine Waffe?

Ich schluckte und presste die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich war es besser, wenn ich kooperierte, zumindest für den Moment. Sonst würde es mich hier auf der Stelle das Leben kosten.

Ich warf einen letzten verzweifelten Blick zum oberen Stock, bevor ich in ein Auto geschoben wurde. Kurz meinte ich, Shade am Fenster stehen zu sehen, doch dann wurden mir die Augen verbunden.

»Wohin bringen Sie mich?«, fragte ich.

Der Schaft der Pistole, der mir nun an die Schläfe gedrückt wurde, war die einzige Antwort, die ich bekam.

Am liebsten hätte ichlaut aufgelacht. Erschossen. An meinem zweiten Tag als Unsterblicher.

Immortals - Solange wir leben [LESEPROBE]Where stories live. Discover now