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Ich blickte über die scheinbare Unendlichkeit der Berge, die sich vor mir erstreckten. Lies meinen Blick über die Gipfel und Täler schweifen.
Ich stellte mir vor, wenn ich sie von Nahem betrachten würde, könnte ich die einzelnen Bäume ausmachen, die in den Wäldern an den Hängen standen. Ich könnte sehen, wie sie dort fest verankert im Boden, Wind und Wetter trotzten, wie in ihren Zweigen ein Eichhörnchen oder ein Vogel wohnte.
Und dort hinten, wenn ich genauer hinsah, meine Augen ganz fest zusammenkniff, ein Stück unter dem großen schneebedeckten Kamm, dort ensprang eine Quelle, direkt aus dem Fels. Meine Augen folgten dem Lauf des Wassers, welches sich von einem Bächlein zu einem Bach in ein kleines Flüsschen wandelte, als es das zweite Tal passierte.
Ich erschauderte bei dem Anblick der Naturgewalt zu meinen Füßen. Fühlte mich klein und schwach, obwohl ich weit über alldem ragte.
Wie ein Riese, der seinem Schicksal entgegen blickte. Seinem Schicksal, verdammt zu seien, die Landschaft mit all ihren Hebungen und Senkungen abzutragen, sodass die Berge einer Ebene wichen, einer Ebene weit und breit, soweit das Auge reichte.
Doch wie sollten meine mickrigen Ärmchen, riesig oder nicht, ein Gebirge, über Jahrhunderte aufgetürmte Gesteinsmasse, bewegen können? Das war mir gänzlich schleierhaft.

Meinem Vater jedoch nicht. Er hatte mir angedroht, wenn ich bis morgen mein Zimmer nicht aufgeräumt hatte, würde er - er hatte nicht weitersprechen müssen, um mich genug zu motivieren. Ich hatte wirklich keine Lust auf Streit mit meinem Vater. Er war ein freundlicher Mann, aber nur bis zu dem Moment, in dem man es sich mit ihm verscherzte.

Also stand ich nun auf dem einzigen Fleck meines Zimmers, der nicht zugemüllt war und krempelte meine Ärmel hoch.
Die Mission des Riesens konnte beginnen.

Nach etlichen Wühl-, Schaufel- und Sortierarbeiten hatte ich ein gutes Stück Boden frei geräumt und meinen Schreibtisch ausgegraben.

Dabei war ich neben sehr viel unnötigem Krimmskrams auf einige interessante Dinge gestoßen. Beispielsweise einer sehr alten elektrischen Zahnbürste, die ich vor Jahren vor meiner Mutter versteckt hatte. Ich hatte mich damals zu diesem drastischen Schritt gezwungen gefühlt, da sie mich immer so sehr gekitzelt hatte, dass ich meine Zähne nicht mehr gescheit putzen konnte. Außerdem hatte sie mich immer zum niesen gebracht.

Ich musste sie wohl so gut versteckt haben, dass sie bei früheren, halbherzigen Aufräumaktionen nie aufgetaucht war.

Des weiteren entdeckte ich den lang verschollenen Füller meines großen Bruders. Ich erinnerte mich noch sehr lebhaft and das Drama.
Er hatte behauptet, ich hätte ihn genommen, was ich selbstverständlich abgestritten hatte.
Gelogen war das auch nicht, denn ich hatte keine Ahnung, dass er tatsächlich bei mir war.

Er hatte mir das noch Wochen vorgehalten, denn der Stift war ein Geschenk von seiner damaligen, ersten, festen Freundin gewesen. Erst nachdem sie nicht mehr zusammen gewesen waren, hatte diese Geschichte ein Ende gefunden.

Wirklich überrascht war ich allerdings über ein Liedblatt, das ich aus einem Stapel herauszog. Das zerknitterten Papier erinnerte mich an etwas.
Denn als ich mehr oder weniger freiwillig im Chor landete, hatte genau das Fehlen dieses Blattes zu meiner Bekanntschaft mit Seungmin geführt. Er hatte mir seines geliehen, da ich meines vergessen hatte. So waren wir Freunde geworden.

Als Kind war das mit den Freundschaften viel leichter gewesen. Spätestens, wenn man zur Geburtstagsfeier des anderen eingeladen worden war, konnte man sich offiziell Freunde nennen.

Im Chor hatte ich auch Hyunjin kennen gelernt. Das war allerdings weitaus weniger reibungslos abgelaufen.

Schon von dem Moment an, als wir das erste Mal miteinander sprachen, waren wir uns einander unsympatisch gewesen. Ich hielt ihn für arrogant und scheinheilig, er mich wohl für trotzig und besserwisserisch.
Von da an galt es fortwährend, den Anderen in allerlei Disziplinen zu übertrumpfen. Wer das Lied schöner singen konnte, wer schneller rennen konnte, wer besser darin war, unserem Chorleiter unbemerkt Streiche zu spielen, wer die Steine auf dem See mehr Hüpfer machen lassen konnte oder wer die tiefsten oder höchsten Töne traf.

A Song For You |MinsungWhere stories live. Discover now