4: Das Kitzeln in den Fingerspitzen

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Ich trete in das Weiß, das sich über alles gelegt hat und die üblichen Geräusche verschluckt. Eine ungewohnte Stille überkommt mich. Mit den sich schließenden Türen verschwindet auch die Lärmkulisse des Busses. Der Schnee gibt der Unruhe, der grauen Masse, eine friedliche Note.

Es ist nach wie vor alles gleich, doch die Schönheit der Natur berührt etwas in mir, von dem ich gar nicht wussete das es existiert.

Ich gehe weiter. Immer weiter zu meinem Termin. Den Befehlen der Gesellschaft folge leistend gehe ich wie jeder andere brave Roboter eilig meinen Geschäften nach. Ein Star Bucks nach dem anderen begegnet mir. Die Kälte lässt meine Fingerspitzen taub werden.

Ein kleines Mädchen, das lachend mit ihrem größeren Bruder durch den Schnee hüpft, steht an der anderen Straßenseite an der Ampel und lächelt mich an. Diese Lebensfreude, dieses Feuer der Menschlichkeit, wann habe ich mein Feuer verloren? Wann ist der Zeitpunkt an dem sie es verlieren wird? Sie hat es nicht verdient es zu verlieren. Es ist so verdammt ungerecht. Dieses Leben nimmt uns alles was wir haben. Es nimmt uns, uns. Die Gesellschaft lässt uns alle von innen heraus verrotten und keiner sieht es.

Die Ampel schlägt auf grün um. Das Licht der Ampel glitzert im Schnee und mein Atem schwebt in weißen Wolken vor meinem Gesicht. Ich gehe los. Ein Schritt, noch einer, ein nächster. Eine plötzliche Erschöpfung macht sich bemerkbar.

Auf halben Weg über die Straße zieht jemand an meinem Mantel. Ich gucke nach hinten und sehe das kleine Mädchen, das lächelnd hinter mir steht. "Uhm...uhm... ich habe ein Geschenk für sie, sie sahen so traurig aus." Sie hält mir eine Handvoll Schnee, in den ein paar kleine Äste gesteckt sind, hin. Verwirrt nehme ich an und bedanke mich. Das mädchen geht kichernd ihrem Bruder hinterher und ist hinter der nächsten Ecke verschwunden. Noch immer stehe ich verwirrt auf der Straße, als ein Auto hupt. Ich hechte auf die andere Straßenseite, auf die des Mädchens, und lehne mich gegen eine Säule. Eine Träne läuft heiß über meine Wange. Auch in diesem Mädchen wird früher oder später dieses unschuldige Feuer erlöschen. Und wenn es nicht von selst passiert, wird die Gesellschaft dem nach helfen.

Ich will nicht wie alle anderen enden...

Ich will leben so wie ich bin...

Ich will dieses Feuer wieder in mir spüren.

Diese Wärme der Menschlichkeit, das lodern des Lebens.

Ich habe es satt nur das Grau unserer Gesellschaft zu sehen, ich will die Farben des Lebens in all ihrer Pracht wahrnehmen dürfen. Ich will keiner der leblosen Gestalten sein, die ich so verabscheue, und doch spüre ich es mit jedem Tag mehr. Das erloschene Feuer hat dafür gesorgt, das ich verderbe.

Ich schaue in den Himmel. Die Kälte lässt mich frösteln. Der schmelzende Schnee auf meinem Gesicht fühlt sich an wie das wunderbarste Gefühl der Welt. Ich schmeiße den Koffer mit meinen ganzen Papieren auf den Boden und reiße mir förmlich die Krawatte vom Hals. Viel zu lange schon ist sie das Symbol der verdorbenheit. Ich spüre eine Freude in mir aufkommen, die ich bisher nicht kannte. Viel zu lange war es her, das ich das Kitzeln, das in den Fingerspitzen anfing und sich dann langsam über meinen ganzen Körper ausbreitet gespürt habe. Es ist ein sehr vertrautes und gleichzeitig ein beängstigendes fremdes Gefühl.

Ich will leben.

Ich will Mensch sein.

VerdorbenWhere stories live. Discover now