6. Die Götter sind mit euch

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Ich blickte nach links und bemerkte Ivar, der auf dem Thron unseres Vaters saß. Sein Blick lag auf seinem Messer, welches er liebevoll streichelte.

Wie erstarrt blieb ich stehen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Sollte ich ihn ignorieren? Sollte ich mit ihm reden?

Schließlich ging ich zu ihm herüber und setzte mich auf den Thron unserer Mutter. Ivars Blick ruhte immer noch auf seinem Messer.

"Ubbe wird es gar nicht gutheißen, wenn er erfährt, dass du dich bis jetzt draußen herumgetrieben hast."

"Du kannst mich nicht erpressen Ivar, ich kann...-", doch er unterbrach mich.

"Und dann auch noch mit einem lausigen Bauernjungen.", er schüttelte den Kopf und grinste selbstsicher.

Ich setzte mich so, dass ich meinen Bruder beobachten konnte und musterte ihn, bis er mir schließlich in die Augen sah.
Es fühlte sich an, als würde Thor Mjölnir nach mir werfen.
Ich schluckte, "Du solltest es dir gut überlegen. Ich werde dich vermissen, Bruder."
Ohne ihn noch einmal anzusehen stand ich auf um mich schlafen zu legen.

"Du musst deinen Gegner besser im Auge haben.", sagte Hvitserk, der mir erneut das Schwert aus der Hand schlug, er kämpfte weiter gegen mich, obwohl ich nur noch ein Schild in den Händen hatte.

Ich überlegte kurze Zeit und machte einen Versuch.
Mit meiner ganzen Kraft schlug ich meinen Bruder mit dem Schild und schmiss es zur Seite. Anschließend wagte ich eine Rückwärtsrolle und landete genau neben meinem Schwert.
Ich griff nach dem Schwert, denn Hvitserk schnellte auf mich zu, um mich erneut anzugreifen.
Ich hockte noch auf dem Boden, als ich in letzter Sekunde mein Schwert bewegte, um Hvitserks Schlag abzuwehren.
"Das war sehr gewagt, Schwester, dennoch hast du dich sehr gut der Situation entrissen.", er lächelte kurz und gab mir einen leichten Schlag auf die Schulter.
"Lass uns für heute aufhören.", mein Bruder ließ sich in das Gras fallen.
Ich tat es ihm gleich und ließ mich nach hinten fallen.
"Ich gebe zu, ich war mir nicht sicher, ob ich den Versuch wagen sollte. Doch bevor ich ausreichend überlegen konnte, hatte ich es schon getan.", ich drehte meinen Kopf zu meinem Bruder, der die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte und in den Himmel sah.
"Du wirst besser, jedoch solltest du so etwas waghalsiges nicht im Kampf tun, es könnte dich dein Leben kosten.", er drehte nun seinen Kopf zu mir. "Doch du wirst von Tag zu Tag besser, Tjara."

"Danke, Bruder. Doch ich werde niemals so gut sein können wie du."
Hvitserk lachte und richtete sich auf, er reichte mir die Hand, um mir hoch zu helfen.

Auf dem Weg zurück ins Dorf hielt Hvitserk vor der Hütte des Sehers an. "Du warst lange nicht dort, du solltest ihm einen Besuch abstatten, ich fühle, dass du etwas auf dem Herzen hast.", er drückte mich in Richtung der Hütte und ich ging leicht widerwillig hinein.

"Seher.", ich sah mich kurz um und kniete mich schließlich vor dem Seher hin.
"Tochter von Ragnar Lothbrok. Lange ist es her.", sprach dieser.

"Ich brauche deinen Rat, Seher. Ich habe das Gefühl zwischen meinen Brüdern zu stehen, sie...-"

Er unterbrach mich.

"Die Axt wird fliegen, du wirst dich entscheiden müssen."

Ich sah den Seher gespannt an.

"Doch ich sehe auch, dass deine Entscheidung große Verluste mit sich bringt, doch es wird trotz allem die richtige Entscheidung sein. Das sehe ich, junge Tjara.", hauchte der Seher mir ins Ohr.
Er streckte seine Hand aus.

Ich erzählte Hvitserk, was der Seher mir sagen konnte.
"Ich möchte mich nicht entscheiden, Hvitserk.", flüsterte ich, als wir fast Zuhause angekommen waren.
"Du kannst nicht wissen, ob der Seher uns damit meinte.", beruhigend legte er mir seine Hand auf die Schulter.
"Und wenn dem so sein sollte.", er zuckte mit den Schultern und trat in die Hütte ein.
Ich folgte ihm.

Ivar beobachtete mich mit seinem kalten Blick und winkte mich schließlich zu sich.
Ich setzte mich wortlos ihm gegenüber auf einen Hocker.
Er strich mir mit dem Finger über meine Wange und sah zu Hvitserk.
"Musste das sein Hvitserk?", er durchbohrte ihn mit seinem Blick.

Hvitserk sah nur kurz zu uns, denn er richtete gerade seine Kleidung.
"Wir haben trainiert, mehr nicht.", entgegnete er nur.
Bevor Ivar zum nächsten Angriff ansetzen konnte mischte ich mich ein, "Es ist nur ein Kratzer, Ivar."
Ich wischte mein Blut von seinen Fingern und anschließend von meiner Wange.

"Tjara hat doch selber Schuld, sie sollte sich besser verteidigen, wenn sie es mit Hvitserk aufnehmen will.", Sigurd sah mich provozierend an.
Ich stand auf und ging langsam auf ihn zu. Ich lachte kurz, bevor ich zu reden begann, "Vielleicht solltest du dich daraus halten, Sigurd. Nur weil du nicht mit deinen Kampfkünsten zufrieden bist musst du nicht die Fehler bei anderen suchen."
Sigurd verzog das Gesicht und wendete sich ab. Ich hörte Ubbe seufzen, doch ignorierte es und setzte mich wieder zu Ivar, der sich immer noch über Hvitserk zu ärgern schien.

"Also Bruder.", Ubbe richtete sich auf und sah Hvitserk prüfend an "Du stichst morgen mit Björn in See."
Hvitserk nickte zustimmend.
"Und du, Ivar wirst mit Vater segeln. Bleiben also nur noch Sigurd, Tjara und ich."

Ich mied Ivars Blick, der sich wohl immer noch nicht damit abgefunden hatte, dass ich in Kattegat bleiben würde.
"Wir werden Kattegat und seine Bewohner schützen.", ergänzte Sigurd. Ich nickte kurz.

Den Abend, bevor meine Brüder Hvitserk und Björn in See stachen, gab es ein großes Fest und ein Opfer wurde dargebracht.
Wir verabschiedeten uns am nächsten Morgen von unseren Brüdern.
Ich sah lange auf das Wasser, bis die großen Schiffe verschwunden waren.

"Wusstest du es?", hörte ich plötzlich eine Stimme, als ich am Ende der großen Halle angelangt war. "Wusstest du, dass Ivar mit Ragnar nach England segeln möchte?"
Ich ging zu meiner Mutter hinüber und setzte mich ein Stück entfernt von ihr hin.
"Ja, ich wusste es natürlich.", sagte ich leise.

"Natürlich wusstest du es, was frage ich nur. Und du wirst natürlich mit deinem Bruder gehen.", meine Mutter klang aufgebracht.

"Nein Mutter. Ivar wollte, dass ich mitkomme, aber ich werde hierbleiben. Bei dir."

Sie lächelte mich kurz an, doch ich spürte, dass sie sich um Ivar sorgte.
Ich schluckte und verließ wortlos die Halle.
"Tjara.", hörte ich meinen Bruder Ubbe noch rufen, doch ich ignorierte ihn und machte mich auf den Weg zum Pier, an dem Ivar und mein Vater noch heute ablegen würden.

Die Schiffe wurden schon beladen, mein Vater stand an einem Schiff und beobachtete seine Leute.
Ich lehnte mich gegen einen Pfosten und sah ihn an.
Zwar stand er mit dem Rücken zu mir, doch er schien mich zu bemerken, "Du bist dir sicher, dass du bei deiner Mutter in Kattegat bleiben willst?"

"Mutter sorgt sich um Ivar. Da kann ich sie nicht auch noch verlassen."

Er stellte sich mir gegenüber und nickte zustimmend.
"Eines Tages wirst du schon noch mit deinem alten Herrn in die Schlacht ziehen.", er drehte sich um, um zu gehen, blieb aber doch stehen und kam zurück, "Und wenn dem nicht so sein sollte, wirst du es mit deinen Brüdern tun.", er legte mir wie bei unserer ersten Begegnung die Hände auf die Wangen und sah mir stumm in die Augen, bevor er sich wieder seinen Leuten widmete.

Er ist mein BruderWhere stories live. Discover now