Das Geschenk

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Sie hatte ein wichtiges Examen, doch obwohl sie lange und fleissig dafür gelernt hatte, war ihr Kopf plötzlich wie leer gefegt. Sie starrte auf das Blatt vor ihr, das sie mit seinen leeren Zeilen zu verhöhnen schien. "Reiss dich zusammen!", rügte sie sich selbst und versuchte, ihr klopfendes Herz damit zu beruhigen. Sie konzentrierte sich auf die Aufgaben vor ihr, las jede einzelne, bis sie die eine fand, deren Antwort sie wusste. Das entspannte ihre Gedanken und sie begann, ihre Lösung auszuformulieren. Langsam aber sicher entwirrte sie den Knoten in ihrem Hirn, stetig kamen neue Erinnerungen an den so lange und intensiv geübten Schulstoff.

Nach eineinhalb Stunden war die Tortur vorbei. Sie streckte ihre müden Arme und schüttelte sie leicht, da sie vom vielen Schreiben verspannt waren und schmerzten. Anschliessend stand sie auf und verliess mit ihren Mitschülern den Saal. Während sie den langen Gang entlang ging, dachte sie über die Prüfung nach. Sie war von sich selbst enttäuscht. Sie war nicht dumm, das wusste sie tief in ihrem Inneren, und sie hatte fleissig gelernt. Doch wenn es dann soweit war und sie ihr Wissen abrufen sollte, klammerten sich jedes Mal die kalten Klauen der Angst an ihr Herz, das sich dann schnell schlagend aus dem harten Griff zu befreien versuchte, aber kläglich scheiterte.

Sie trat aus dem alten Gebäude und stöhnte frustriert. Ihre Freundinnen wussten genau, dass sie in einem solchen Moment lieber allein sein möchte, und ihre Mitschüler schienen ebenfalls einen weiten Bogen um sie zu machen und mieden ihren Blick. Sie war im Allgemeinen nicht jemand, der viele Freunde hatte oder von sich aus auf andere zuging, im Gegenteil; sie war eher schüchtern. Trotzdem sollte sie nicht unterschätzt werden, denn sie wusste sich sehr wohl mit ihrer scharfen Zunge zu verteidigen. Diese Erfahrung musste auch ein älterer Schüler vor Jahren machen. Seither mieden sie einige, da sie einen gewissen Ruf hatte. Das störte sie nicht sonderlich, ihre Freundinnen wussten schliesslich, dass sie auch eine andere Seite hatte. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten.

Sie war noch angespannt, die Krallenspuren der Angst noch immer fühlbar. Sie hob ihren Kopf. Ihre langen, dunklen Locken umrahmten leicht ihr schönes Gesicht, ihre mandelförmigen Augen, dunkel und warm wie schwarze Schokolade, blickten in den Himmel. Das sanfte Blau, das von einzelnen weissen Schäfchenwolken gesprenkelt war und die warmen Sonnenstrahlen, die die Unendlichkeit über ihr durchzogen, vermochten es immer, ihre angespannten Nerven zu beruhigen. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Wellen, die von der hellen Kugel ausgingen.

Dann hörte sie Schritte. Zuerst dachte sie, diese würden an ihr vorbeiziehen, doch sie wurden immer lauter, fast schon wie Getrampel in ihren empfindlichen Ohren, bis sie plötzlich verstummten. Verwundert öffnete sie die Augen, nur um von vier Gestalten geblendet zu werden, da sich die Sonne in ihre Netzhaut gebrannt hatte. Noch bevor sie etwas erkennen konnte, trug der Wind eine engelsgleiche Stimme an sie heran. «Hey...» Als sich ihre Augen an die neue Helligkeit gewöhnt hatten, betrachtete sie die vier Gestalten vor ihr, die sich als Menschen, besser gesagt als Männer herausstellten. Doch sie sahen ganz anders aus, als sie es sich gewohnt war. Es waren offenbar Asiaten, den seltsam geformten Augen nach zu schliessen. Sie fand es aber überhaupt nicht störend, im Gegenteil. Es gefiel ihr sogar, was ihr manchmal von Bekannten einen dummen Spruch einbrachte, wenn es ihr rausrutschte.

Gesprochen hatte offenbar einer mit schwarzen Haaren und einem Ziegenbärtchen. Er sah mit seinen von Tattoos bedeckten Oberarmen und den schwarzen, stechenden Augen ziemlich furchterregend aus, wären da nicht seine vollen Lippen, die sich sanft zu einem warmen Lächeln verzogen. Bei seinem Anblick breitete sich eine ungewohnte Wärme in ihrem Herzen aus, doch ihr Gesicht verweigerte eine Reaktion. Das einzige, was darauf schliessen liess, dass sie ihn gehört hatte, waren ihre geschwungenen Brauen, die sich leicht runzelten.

«Aah, wie unhöflich von uns, wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt! Mori-Chan, wie konntest du das vergessen?», ergriff nun ein anderer das Wort. Er stand rechts vom ersten, seine Haare dunkel mit dunkelgrünen Spitzen. «Ich bin Tomoya. Ich spiele leidenschaftlich gern Schlagzeug und ich liebe es, zu lachen», erklärte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Es war ansteckend, denn sie spürte, wie nun auch ihre Mundwinkel leicht nach oben zuckten. Erwartungsvoll blickte er zu seinen drei Kameraden, die jedoch keinen Wank machten. «Jungs, na los, stellt euch vor!»

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