Nur noch ein Schritt über die Schwelle

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"Johannes."
Es ist Ivankas heisere Flüsterstimme, die mich aus dem Schlaf reißt. Nicht nur mich, auch Tua, der sofort hellwach wirkt, obwohl die Ringe unter seinen Augen dunkel sind und er allgemein immer schlimmer aussieht, seit wir hier angekommen sind. Kein Wunder, er raucht eine Schachtel am Tag und gestern am Abend saß er wieder mit einem Joint auf der Veranda. Er könnte ohne nicht einschlafen, hat er behauptet, zu groß sei seine innere Unruhe. Seine Finger haben leicht gezittert, als er es mir erklärt hat. Wenn es nicht nur die Kälte war, hat er mich nicht angelogen. Ich bin mir fast hundertprozentig sicher, dass er nicht gelogen hat.
Der wirre Traum, den ich eben noch hatte, löst sich in Nebelschwaden auf und ich höre das Pochen meines Herzens, es hallt in meinem Kopf wider. Langsam werde ich mir wieder bewusst, dass ich am Leben bin - und das Kostja es bald nicht mehr sein wird.
"Es geht ihm schlechter", informiert Ivanka Tua neben mir prompt, dessen Blick sofort zu mir gleitet.
"Schlaf weiter", weist er mich an und haucht mir einen Kuss auf die Stirn. Aber ich strecke mich unbeeindruckt von seinen Worten, richte mich auf. Das kann er vergessen, dass ich ihn jetzt allein lasse.
"Wir gehen gemeinsam runter", widerspreche ich ihm. Es ist eine Feststellung. Widerspruch ist zwecklos. Tua weiß das. Er will etwas sagen, doch er muss sich seine Kräfte den Tag aufsparen. Ich küsse ihn auf die Wange und stehe auf, wühle in meiner Tasche nach einer Jogginghose und einem Hoodie. Nachdem ich etwas für mich gefunden habe, widme ich mich der Suche nach passenden Klamotten für meinen Freund. Passend ... Passend wofür?
Ivanka klammert sich an ihren Sohn, der inzwischen aufgestanden ist, um sie in den Arm zu nehmen. Ich ziehe mich an, dann breite ich die Sachen für Tua auf dem Bett aus.
"Ich wünsche Kostja nur kurz einen Guten Morgen, dann kümmere mich ums Frühstück", verkünde ich. "Leistet ihr ihm solange Gesellschaft?"
Mutter und Sohn nicken und damit bin ich wohl entlassen. Schnell husche ich die Treppe hinunter, nehme meine Locken unterwegs zu einem Messy Bun zusammen. Ich fühle mich auf alles vorbereitet seit dem gestrigen Gespräch mit Kostja.
Die Tür zu seinem Zimmer ist nur angelehnt.
"Guten Morgen", begrüße ich ihn mit einem Lächeln, das er sogar erwidert, obwohl es ihn sichtlich anstrengt.
"Hallo", säuselt er und ich mache einen Schritt in den Raum hinein.
"Möchtest du was essen, oder vielleicht was trinken?", frage ich ihn.
"Weder noch."
Klar, wozu auch?

Eine warme Hand landet auf meiner Schulter. Prompt schmiege ich mich seitlich an Tua, dessen Atem schneller geht, als er es wohl sollte. Die Nervosität ist ihm anzumerken, doch die Umarmung scheint ihn zu beruhigen. Ich streichle seinen Bauch, in der Hoffnung, dass es ihn runterbringt. Ivanka ist indes an die Seite ihres Mannes getreten. Sie hält seine linke Hand mit ihren beiden umschlossen, er legt seine rechte noch darüber. Ihr laufen Tränen die Wangen runter. Sie schluchzt nicht, gibt keinen Laut von sich. Es wird still, als hätte uns jemand unter Wasser getaucht.
Tua macht eine ganze Weile lang keine Anstalten, mich loszulassen. Mich ihm zu entziehen stellt keine Option dar, das würde ihm nicht gut tun gerade. Also bleibe ich bei ihm. Er nimmt mich vor sich, platziert mich zwischen sich selbst und dem Tod, der seinem Vater blüht, drückt mich fest und konstant, aber er tut mir nicht weh und ich kann einwandfrei atmen, daher lasse ich ihn gewähren. Ich streiche ab und an sanft über seine Arme, die er knapp unterhalb meiner Brust verschränkt hat. Irgendwann, ich kann nicht sagen, wie viele Minuten vergangen sind, lässt der Druck nach und Tua klammert sich nicht mehr an mir fest wie ein Ertrinkender, sondern hält mich bloß noch im Arm. Er sieht seinen Vater an, der bisher nur Augen für Ivanka hatte, nun aber doch seinen Sohn anblickt. Mein Freund lässt mich los und begibt sich ebenfalls ans Sterbebett, sodass ich mich unbemerkt aus dem Raum stehlen kann. Meine Hände arbeiten ohne mein Zutun, ich brühe Kaffee auf und schütte ihn in eine Thermoskanne für später, weil ich im Schrank einen Arzneitee gegen Nervenleiden entdecke. Den sollte ich vielleicht zuerst servieren, bevor ich Tua und seiner Mutter Koffein einflöße. Der Blick auf die Küchenuhr verrät mir, dass es gerade mal sechs ist und ich frage mich, ob Kostja selbst damit gerechnet hat, dass die Reise nun doch so früh für ihn losgeht. Früh heißt in dem Fall ein paar Stunden eher als geplant. Hat er nicht gestern noch verlauten lassen, Mittag oder Abend wäre es soweit? Jetzt sieht es aus, als müsste er sich noch am Morgen von seiner Familie verabschieden.

Mit ein paar fixen Handgriffen rühre ich Porridge in einem Topf an, schneide Äpfel, verteile Zimt obendrauf. Was Warmes im Magen wird weder Tua noch Ivanka schaden. Der Tee ist schon drüben und als ich das Essen in Kostjas Zimmer trage, balanciere ich auf demselben Tablett die Thermoskanne mit Kaffee, von dem ich mir gleich als erstes eine Tasse einschenke. Tua sieht es, kommentiert es aber nicht. Ist mir recht so, dass ich mich in dieser Lage stresse, soll ihn im Moment nicht beschäftigen. Er muss sich auf seinen Vater konzentrieren.
"Erzählt mir was, Kinder", sagt Kostja leise und sieht seinem Sohn dabei in die Augen. "Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie du sie kennengelernt hast." Bei sie deutet er schwach mit dem Daumen in meine Richtung.
"Iara hat im Sommer ein Praktikum bei Universal gemacht", beginnt Tua und seine Miene hellt sich beim Sprechen unerwartet auf. Nur minimal, aber doch erkennbar, wenn man genau hinschaut. "Sie ist mir im Büro aufgefallen. Auf einer Party später haben wir länger miteinander gequatscht, immer mehr Zeit miteinander verbracht und irgendwann kam eins zum anderen, nachdem sie und ihr Ex-Freund Schluss gemacht hatten."
"Und jetzt noch die Wahrheit?", scherzt Kostja. Ivanka lächelt, Tua genauso. Er sagt damit nichts und alles zugleich aus.
"Ich wollte erst keine Beziehung, wir hatten ziemlich lange was Lockeres, bis ich mich fürchterlich verliebt habe", übernehme ich und Kostja grinst.
"Mit so viel Ehrlichkeit kannst du umgehen?", neckt er Tua und der schüttelt amüsiert den Kopf.
"Der Mensch gewöhnt sich an alles", spielt er es herunter.

Die Stimmung entspannt sich auf seltsame Weise. Natürlich schwebt die dunkle Vorahnung über unseren Köpfen, doch wir sitzen gemeinsam in dem geräumigen Krankenzimmer, Ive bei Kostja auf der Bettkante, ich auf Tuas Schoß und unterhalten uns. Unser Gespräch ist inzwischen über ein ganzes Themengebirge galoppiert. Kostja und Ivanka haben viel über die Ukraine erzählt und der Wunsch, mir von Tua Kiew zeigen zu lassen, ist in der letzten halben Stunde unermesslich in meinem Innern gewachsen. Ich wurde zu Bahia befragt. Wir haben über das Aufwachsen mit zwei Kulturen gesprochen und obwohl ich merke, dass meine brasilianische Seite mich nicht mal ansatzweise so stark beeinflusst, wie Tua von seiner ukrainischen geprägt wurde, kann ich doch etwas anfangen mit dem Gefühl, nirgends ganz hinzupassen. Tua hat die Melancholie des Ostblocks von seiner Mutter geerbt, die nicht in dieses Land gehört, und ich ... Ich bin zu offenherzig und freigiebig für Deutschland, mit einer zu warmen Ausstrahlung von Natur aus. Mit den Jahren hat sich das geändert, vor allem, als wir noch in der Vorstadt gelebt haben. Durch meine Kindheit bin ich rauer geworden, ähnlich wie Tua, den ich zum ersten Mal darüber sprechen höre, dass er seine weiche Seite vermisst, seit er sich in seiner Jugend mit den falschen Leuten eingelassen hat.

Ivanka hat den Raum eben verlassen, um ihr Strickzeug aus dem Wohnzimmer zu holen, als Kostja unvermittelt die Augen zufallen. Ihm war anzusehen, dass er immer müder geworden ist, aber Tua bemerkt wie ich ganz schnell, dass es nicht einfach nur Müdigkeit ist, die ihn gepackt hat. Mein Freund schiebt mich von sich runter und tritt zu seinem Vater ans Bett, der schwer atmet. Ich stelle mich daneben, nehme Kostjas Hand, die kalt und verschwitzt ist. Egal, wie gut ich mich mit Ivanka verstehe, ich kann den Botengang nicht erledigen und vor ihr verkünden, dass ihr Mann in exakt diesem Moment im Begriff ist zu sterben.
"Hol deine Mutter", bitte ich stattdessen Tua. "Beeil dich."

MessiasWhere stories live. Discover now