Vielleicht ist es die fröhliche Atmosphäre auf dem Weihnachtsmarkt, die mich an meine Kindheit erinnert; der Duft von gebrannten Mandeln, Punsch und Lebkuchenherzen. Als ich sechs Jahre alt war, nahm Papai mich zum ersten Mal mit hierher. Carrie war auch dabei. Ich hatte zuvor nichts gesehen, was ich so wunderschön fand wie die beleuchteten Fahrgeschäfte, die Buden, an denen lachende Menschen standen und die leckersten Sachen aßen und die Fußspuren im weißen Schnee. Schon das darauffolgende Weihnachten war für mich eine Enttäuschung, weil es kaum schneite und die winzigen Flocken schnell zu dem typischen berliner Schneematsch wurden, den Maurice und ich heute mit unseren Schritten auf dem Asphalt verschmieren.
Papai mochte die Feiertage, weil er sie mit uns verbringen konnte... Das waren noch Zeiten. "Papai", lasse ich mir das brasilianische Wort für Papa auf der Zunge zergehen.
"Was hast du gesagt?", fragt Maurice irritiert.
"Nichts", antworte ich rasch. Mein Blick huscht unauffällig hinüber zum Riesenrad. Das war der krönende Abschluss unserer Abende, wenn wir sie auf dem Weihnachtsmarkt verbrachten.
"Sollen wir 'ne Runde mit dem Ding drehen?", kratzt Maurice sich skeptisch am Bart.
"Gerne", lächle ich, denn warum soll sich eine Runde mit dem Riesenrad nicht auch als schöner Anfang eines Abends in netter Gesellschaft erweisen?
Also ist es beschlossene Sache. Wir schlendern hin, kaufen uns die Chips - das Äquivalent zur Eintrittskarte auf dem Weihnachtsmarkt - und sitzen kaum fünf Minuten später in einer der bunt lackierten Kapseln.
"Wieso bist du so still geworden?", mustert Maurice mich von der Seite.
"Immer wenn es kälter wird, denke ich an meine Familie in Brasilien", erkläre ich. "In Bahia ist es warm."
"Das glaub ich." Er haucht bibbernd in seine frierende Faust. "Hast du seit der Trennung deiner Eltern noch Kontakt zu den Leuten dort?"
"Eher selten. Carrie kommuniziert über Social Media mit unseren Cousins und Cousinen, ich telefoniere nur ab und an mit Vovó."
"Vovó?"
"Mit meiner Oma", übersetze ich. "Aber es ist schwierig, das nicht zu vernachlässigen, jetzt, wo ich die Ausbildung mache."
"Das klingt eventuell etwas hart, aber bedeutet dir dieser Teil deiner Familie überhaupt noch was? Du hast mir mal erzählt, Carrie und du, ihr wärt früher oft in den Sommerferien mit deinen Eltern nach Südamerika geflogen und das hätte aufgehört, nachdem euer Vater euch verlassen hat. Und dann hast du mir vor gar nicht allzu langer Zeit gesteckt, du könntest deinen Vater nicht ausstehen, wegen einer mehr als unangenehmen Begegnung mit Stean, oder irgendwas in der Richtung ...?" Maurice will offenbar sein Klatsch-Lexikon um einen lohnenden Eintrag erweitern, dabei hat Papai sich für den Streit vor drei Jahren mit meinen Freunden entschuldigt. Okay, erst auf Mamas Hochzeit vor zwei Tagen, aber wann ist ja egal. Wichtig ist, dass er diesmal ehrlich klang. "Er hat Stean und Luk als Musiker-Pack beschimpft und sich generell furchtbar benommen", lasse ich das Geschehene Revue passieren.
"Vollidiot", platzt es aus Maurice heraus. "'Tschuldige", schiebt er sofort hinterher.
Lachend winke ich ab. "Keine Sorge, du hast Recht, er hat sich wirklich wie ein Vollidiot aufgeführt." Damit wir das vorherige Thema endlich abschließen können, sage ich: "Ich habe damals akzeptieren müssen, dass meine Mutter allein einfach zu wenig verdiente, um mit mir und meiner Schwester nach Salvador zu fliegen. Carrie war mein Vorbild. Sie meinte zu mir, Bahia wäre eben bloß unser zweites Zuhause und unser erstes Zuhause, Berlin, das ginge vor. Sie hat mir geholfen meine andere Familie zu finden." Schelmisch stupse ich gegen seine Nase.
Er grinst. "Verstehe. Bastian hat dein Alter anfangs vor uns geheimgehalten, wusstest du das?"
"Ja, unmöglich", verdrehe ich die Augen.
"Hey, nimm's ihm nicht übel. Wir hatten eigentlich Besseres zu tun als uns mit vierzehnjährigen Fangirls anzufreunden. Er hat alles richtig gemacht. Hätte er uns dein Alter verraten, hätten wir dich nicht ernst genommen."
"Weil ihr Hurensöhne seid", präsentiere ich ihm meinen Mittelfinger.
"Du warst praktisch noch ein Kind."
"Ihr wart praktisch mental nicht gravierend älter als ich", kontere ich.
"Touché. Was für eine Geschichte tischst du denen auf, die dich fragen, wie du den Kokainklan kennengelernt hast?", gräbt er tiefer.
"Die einzig Wahre", erwidere ich.

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Messias
RandomIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...