Ich liege unter ihm und weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Mund öffnet sich, aber ich schließe ihn schnell wieder und es fühlt sich an, als hätte ihn mir jemand zugeklebt. Vielleicht hat dieser Jemand mir auch die Stimmbänder durchgeschnitten, denn ich bringe kurz darauf wirklich gar keinen Laut mehr heraus. Eigentlich bin ich das hin und wieder auftretende Schweigen zwischen uns gewohnt und kann damit gut umgehen, weil es nie unangenehm ist - oder war, bis zum jetzigen Zeitpunkt.
Tua atmet ein, es ist ein geräuschloses Seufzen, ich erkenne es sofort an der Melancholie, die sich in seinen Augen widerspiegelt. "Ich hätte den Mund halten sollen, tut mir leid", entschuldigt er sich. Ich umfasse sein Gesicht mit beiden Händen, aber die Stille ist beständig. Mir fällt darauf nichts ein. Einerseits will ich nicht, dass er sich Vorwürfe macht, oder sich schlecht fühlt, weil er eine nicht zu ändernde Tatsache ausgesprochen hat. Andererseits bin ich so weit entfernt davon gewesen, auf das Kondom zu verzichten, dass es mich überrascht, wie nah ich dieser Versuchung auf einmal komme. Ich könnte einfach ja sagen; ich könnte ihn machen lassen und beobachten, was es bewirkt. Irgendwie bin ich auch neugierig darauf, aber dann flüstert die Stimme in meinem Kopf, dass ich dafür nicht bereit bin und, von kleineren Ausnahmen mal abgesehen, ist meine Intuition verlässlich. Das ist nicht irgendeine Stimme, es ist die Stimme der Vernunft, die mich davor warnt, einen Fehler zu begehen. Selbst wenn ich nicht schwanger werden würde, würde sich ungeschützter Sex nicht richtig anfühlen. Und dass sogar obwohl wir riesige Fortschritte in den letzten paar Tagen gemacht haben, die unsere Beziehung vorangebracht haben und obwohl es Tua ist ... Obwohl ich ihn liebe. Das ändert trotzdem nichts daran.
"Ich will das nicht", sage ich leise.
"Ich weiß", antwortet er. Er bereut es, mir davon erzählt zu haben, ich spüre es genau. Es ist die Art, wie er meinen Arm umfasst: der leicht verzweifelte Griff, als ob er befürchtet, ich würde ihm davonlaufen, sobald er mich loslässt.
"Alles gut", rede ich auf ihn ein und ziehe ihn zu mir. Als ich versuche, ihn zu küssen, wendet er sich ab. Und das tut weh, er weiß es, aber er etwas scheint ihn zu blockieren. Ich merke, dass er nicht in der Lage ist, vor mir den Starken zu spielen und ich bin ihm, um ganz ehrlich zu sein, dankbar dafür, dass er es nicht tut. Früher hat er es getan und wozu hat es geführt? Zu einem langen Gespräch auf einer Parkbank, bei dem er mir von seinen Albträumen berichtet hat. Jede Qual, die er sich so zufügt, ist Folter für mich. Er ist ein Meister darin, seine eigenen Probleme unter den Teppich zu kehren. Darin sind wir uns ähnlich. Immer darauf bedacht, bloß nicht unsere negativen Gefühle mit anderen zu teilen. Niemandem schaden. Umso wichtiger ist es, dass wenigstens wir Zwei keine Geheimnisse voreinander haben; darüber sprechen können, wie wir uns tief im Innern wirklich fühlen, weil das Leben hart ist.
"Möchtest du allein sein? Deine Gedanken ordnen?", frage ich ihn vorsichtig. "Wir können auch draußen ein paar Schritte tun, wenn du magst", schlage ich vor.
"Ich gehe auf der Veranda eine rauchen. Gib mir zehn Minuten."
"Reden wir danach?" Die Frage ist mehr als Aufforderung gemeint und er versteht sie auch genauso. "Logisch", antwortet Tua, zieht sich an und bevor er nach draußen verschwindet, küsst er mich, sodass meine Sorgen ein wenig abklingen.
Ich beobachte ihn durchs Fenster und es ist mir egal, wie gruselig ich dabei aussehen muss. Nebenbei zupfe ich das Wachs von meiner Haut. Meine Knochen knacken, als ich aufstehe, mir sein T-Shirt nehme und es überstreife. Er hat sich vor dem Rausgehen den Hoodie geschnappt, der ist eindeutig angemessener bei der Eiseskälte und essenziell, weil er sich gegen eine Jacke entschieden hat. Statt der Boxershorts hole ich eine Jogginghose aus dem Schlafzimmer. Ich gieße mir ein Glas Wasser ein und setze mich damit an den Tisch. Wie vertreibe ich jeglichen Gedanken an Mascha? Gibt es dafür eine Anleitung? Aber sie ist nicht die Einzige, an die ich denken muss. Sicher war sie die letzte Frau, mit der er ungeschützten Sex hatte. Tua hat sich von der Sache mit dem Baby bis heute nicht erholt und ich bezweifle, dass er je wieder der Versuchung nachgegeben hat. Nur ist Mascha schließlich nicht seine einzige Ex-Freundin und die Frage, wie viele Frauen vor mir von seiner Vorliebe wussten, seiner Bitte vielleicht sogar nachgegeben haben, treibt mich übel um. Zwar sagt mir nicht nur Tua, dass ich den meisten anderen dieser Mädchen eine Menge voraus habe, dennoch fehlen mir Erfahrungen, die seine ehemaligen Freundinnen wahrscheinlich längst ihrerzeit gemacht haben. Mich stört das. Ich weiß, dass ich nicht alles auf einmal haben kann, dass ich Geduld brauche und Beziehungen für die Ewigkeit ohnehin erst mit der Zeit aufblühen. Aber manchmal, so wie jetzt gerade, fällt es mir schwer, das zu akzeptieren.
Die Tür quietscht und ich blicke auf. Bis eben habe ich regungslos auf meine Hände gestarrt. Ich strecke die Finger und setze ein Lächeln auf, das direkt wieder erstirbt. Dummer Reflex. Ich bin hier nicht auf Arbeit und Tua ist der letzte Mensch, dem ich vormachen müsste, mir ginge es fantastisch. Er platziert sich mir gegenüber und schaut mich an. "Tut mir leid, dass ich dich da vorhin in Zugzwang gebracht habe. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen."
"Ich weiß", erwidere ich. Mir ist bewusst, dass er keine böse Intention verfolgt hat. "Du hast dich hinreißen lassen. Wäre mir auch fast passiert, ich hätte mich beinah drauf eingelassen", nuschle ich.
"Wieso?" Forschend mustert er mich.
"Ich will deinen Ex-Freundinnen in nichts nachstehen", gebe ich zu.
Tuas Kiefer mahlt. Er fährt sich über den Schädel und ich presse verunsichert die Lippen aufeinander.
"Du kannst meine Vergangenheit nicht ändern", meint er ernst.
"Ich weiß -"
"Dann hör auf, dir das zu wünschen. Das bringt doch nichts."
Er ist genervt von mir. Schon wieder kullern mir Tränen die Wangen runter, diesmal allerdings aus ganz anderen Gründen. Sein Gesicht wird weicher, als er es sieht. In seinem Blick erkenne ich, dass er sich die Schuld dafür gibt und ein bisschen ist das berechtigt, aber im Prinzip ist er unschuldig. Er kann nichts dafür, dass ich schrecklich emotional reagiere. Dass er sich Vorwürfe macht, weil er glaubt, mich zum Weinen gebracht zu haben, macht mich bloß noch mehr fertig.
Tua kommt auf meine Seite, zieht mich vom Stuhl und umarmt mich. Ich schluchze zwei, drei Minuten in seinen Pulli und er hält mich einfach fest. Vermutlich, weil keine Ahnung hat, was er sonst tun soll. Statt mich von ihm zu lösen, nachdem ich mich einigermaßen gefangen habe, schmiege ich mich noch enger an ihn. "Es ist schwierig, okay?", murmle ich. "Sich nicht zu vergleichen ist wirklich extrem schwer."
"Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass ich keine Kontrolle darüber hatte, was ich da zu dir gesagt habe", gesteht er. "Das kam von einem Ort sehr, sehr tief in mir. Keine Ahnung ..." Als ich die Hoffnung schon aufgebe, dass noch etwas von ihm kommt, fährt er fort. "Ich wusste nicht, dass ich das noch immer will. Nach dieser beschissenen Abtreibung hatte sich das Bedürfnis vollkommen verabschiedet."
"Hast du's versucht?", frage ich ihn tonlos.
"Es ging nicht", antwortet er knapp und sagt mir damit nur genau so viel, wie ich wissen muss. Ich beschließe es dabei zu belassen, jede weitere Erklärung könnte mich verletzen.

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Messias
RandomIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...