• VIER •

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Eine Weile sehe ich sie verdattert an, wobei ich vermutlich wie ein Goldfisch auf dem Trockenen ausschauen muss. Irgendwann schnipst sie mir ungeduldig vor dem Gesicht herum und reißt mich aus meiner Starre. Ich stammele schließlich: »Wie meinst du das?«

Jordie zuckt mit den Schultern und antwortet: »Genau, wie ich es gesagt habe. Ich suche zurzeit einen Nachmieter, weil ich mit meinem Freund zusammenziehe...«, kurz zuckt sie zusammen und sieht mich schuldbewusst an, doch ich winke nur ab, »... und habe dieses Apartment wirklich ins Herz geschlossen. Ich würde es also nur an jemanden weitergeben, der es ebenso zu schätzen weiß, wie ich.«

»Und du meinst, das trifft auf mich zu? Du kennst mich doch kaum«, merke ich zweifelnd an. Ich hätte mir an ihrer Stelle vorhin wirklich nicht einfach so den Schlüssel zu dieser Wohnung überlassen. Entweder Jordie hat wirklich eine bemerkenswerte Menschenkenntnis, oder sie ist einfach nur leichtsinnig. Vielleicht ist es auch ein bisschen von Beidem.

Sie zeigt mit ihrem beringten Zeigefinger auf mich und sagt triumphierend: »Ich habe deinen Blick gesehen! Du liebst es hier, gib's schon zu!« Widerspruch erscheint mir zwecklos, weshalb ich nur schulterzuckend nicke. Trotzdem heißt das nicht, dass ich deshalb gleich hier einziehen werde!

»Jordie, dein Angebot ehrt mich wirklich sehr, aber –«

»Bevor du Nein sagst: Der Mietpreis hier ist wirklich ein Witz, plus du hättest die Chance auf einen tollen Neuanfang!«

Ehrlich gesagt geht mir das alles ein bisschen zu schnell... Na gut, es geht mir sehr viel zu schnell! Aber trotzdem erlaube ich mir für einen Moment, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen – rein hypothetisch natürlich.

Ich könnte alle Brücken zu Eric hinter mir abreißen, und damit nicht nur emotionale Distanz schaffen, sondern auch örtliche. Die Vorstellung, wieder zurück nach Connecticut zu gehen und jedem unserer Freunde, sowie Benannten in die Augen schauen und deren mitleidige Blicke ertragen zu müssen, jagt mir einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. Außerdem verbinde ich dort so viele Dinge mit ihm. Ich könnte nicht durch die Straßen meiner Heimat gehen, ohne in irgendeiner Form an ihn erinnert zu werden. New York City dagegen erscheint mir beinahe schon perfekt dafür, ihn zu vergessen. Hier gibt es rein gar keine Verbindung zu ihm, nicht die geringste.

»Ah, ich sehe schon, da denkt jemand über mein Angebot nach!«, säuselt mir Jordie ins Ohr.  Ich zucke leicht zusammen und murmle ausweichend: »Ich war nur in Gedanken.« Leider scheint sie mir das nicht wirklich abzunehmen.

»Komm schon, Callah, das wird super! Ich ziehe nicht einmal besonders weit weg, nur ein paar Blocks, dann könnten wir uns sogar besuchen und Sachen zusammen unternehmen. Wäre das nicht toll?«

Mir schwirrt der Kopf von dem Tempo, in dem Jordie unsere Freundschaft vorantreibt, aber  gleichzeitig stelle ich erstaunt fest, dass ich mich in ihrer Nähe wohl fühle. Trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) ihrer sehr extrovertierten Art, die so ganz anders ist, als meine.

»Äh, langsam, ich kann doch nicht von jetzt auf gleich entscheiden, ob ich hier einziehe!«

Doch die junge Frau zuckt bloß mit den Schultern und sagt: »Warum denn nicht? So ein kompletter Neustart wär doch mal was.« Da hat sie nicht ganz unrecht. Aber trotzdem...

Ein herzhafter Klopfer ihrerseits gegen meine Schulter lässt mich einen Schritt vorwärts stolpern. »Ich bin mir sicher, du wirst es nicht bereuen. Und sieh's mal so: Du bist hier nicht komplett allein in der Stadt, ich steh dir immer zur Seite, solltest du Hilfe brauchen.«

Etwas misstrauisch frage ich sie: »Aber warum eigentlich? Ich meine – nichts für ungut – du kennst mich doch erst seit gerade mal zwei Sekunden. Warum tust du all das für mich?«

Da wird Jordie leicht rot um die Nasenspitze und windet sich. Mit gerunzelter Stirn sehe ich sie abwartend an, bis sie schließlich einknickt und seufzend sagt: »Na gut, okay! Du hast gewonnen. Aber wehe du lachst, wenn ich dir das jetzt erzähle!«

Mit den Augen rollend hebe ich die Hand zum Schwur und verspreche ihr hoch und heilig, dies nicht zu tun. Schließlich beginnt sie widerwillig zu erzählen: »Meine Wahrsagerin hat mir gestern gesagt, dass mir heute eine besondere Person fürs Leben über den Weg laufen wird. Sowas wie Lebensgefährten hat sie eher nicht gemeint, also dachte ich mir, eine neue beste Freundin bereichert vielleicht mein Leben.«

Ich bin tatsächlich kurz versucht, zu lachen. Doch da ich ihr versprochen habe, es nicht zu tun, verkneife ich es mir und sage stattdessen: »Aber woher willst du wissen, dass dir heute nicht noch eine andere ›besondere‹ Person über den Weg laufen wird? Der Tag ist ja noch nicht zu Ende.«

»Ach, komm schon, es ist Abend. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie dich meinte. Du bist echt schwer in Ordnung, Callah.« Sie öffnet die eine Hälfte der Fensterfront und ich muss einen großen Schritt zurücktreten während es aufschwingt. Prompt weht mir ein kühler Schwall Nachtluft entgegen, welcher allerdings kurz später von Jordies Zigarettenrauch ersetzt wird.

Mit den Händen wedelt sie die dichten Schwaden weg und murmelt: »Also, der einzige Nachteil an diesem Apartment ist der, dass es keinen Balkon gibt. Aber hey, dafür könntest du theoretisch aufs Flachdach oben. Ist im Prinzip wie eine riesige Terrasse, nur nutzt fast niemand diese Gelegenheit.«

»Warum denn nicht? Ist es unsicher da oben? Oder ranzig?« Sie schüttelt den Kopf und antwortet: »Nein, weder noch. So viele Leute wohnen hier oben im Grunde genommen gar nicht und die, die es tun, sind entweder kaum da oder so alt, dass sie sich nicht groß drum scheren. Aber da ist so ein Typ, der sich ziemlich breit gemacht hat. Er spielt praktisch jede Nacht E-Gitarre auf dem Scheiß-Dach. Einer der Gründe, warum ich zu meinem Freund ziehe.«

Ich runzele die Stirn. »Aber wieso beschwert sich niemand?«

»Naja, weil die anderen Mieter eben entweder nicht da oder taub sind.«

»Verstehe«, murmle ich. »Ich bin weder alt und taub, noch ständig unterwegs. Warum sollte ich mir das dann antun?«

Halb erwarte ich schon, dass Jordie ins Schwitzen gerät, doch auch hier hat sie eine Antwort parat: »Es ist hier wirklich nicht so laut zu hören. Leider habe ich einen extrem leichten Schlaf, sodass mich solche unregelmäßigen Geräusche stören.«

Eine Weile stehen wir schweigend nebeneinander am Fenster und schauen auf die Stadt herunter. Mich fröstelt es etwas, aber ich habe keine Lust mir eine Jacke zu holen.

Irgendwann drückt Jordie den Stummel in einem alten Blumentopf aus. Während sie das Fenster wieder schließt, fragt sie mich: »Also, was sagst du? Magst du meine Nachmieterin werden?«

Seufzend schüttle ich den Kopf: »Ich habe dir doch schon gesagt, dass mir das alles viel zu schnell geht.«

Da wirbelt sie herum und packt mich bei den Schultern, woraufhin ich vor Schreck nach Luft schnappe. »Callah! Wir sind noch so jung! Wann, wenn nicht jetzt, können wir übereilte Entscheidungen treffen! Du stehst gerade an einer Stelle im Leben, an der du etwas Altes loslassen und mit etwas Neuem beginnen musst. Das ist die perfekte Gelegenheit!«

Ihre Worte lassen mich zugegebenermaßen nicht ganz kalt. Doch mir ist klar, dass das einfach nur unvernünftig wäre, was überhaupt nicht zu mir passt. Das bin einfach nicht ich!

Aber was, wenn ich es einfach versuche? Aus Erics Wohnung muss ich sowieso ausziehen, wieso dann eigentlich nicht die Chance nutzen?, flüstert eine Stimme in meinem Inneren. Aber andererseits wäre es schlauer, eine Weile bei meinen Eltern zu bleiben, um in Ruhe nach der geeigneten Wohnung zu suchen.

»Ich mache dir einen Vorschlag: Wie wäre es, wenn du für eine Woche hier wohnst und siehst, ob es dir taugt? Bis dahin wohne ich bei meinem Freund. Und wenn es dir dann doch gefällt, ziehe ich aus und du ein.« Sie hält mir die Hand hin. »Deal?«

Mit nachdenklich zusammengepressten Lippen starre ich auf die gebräunte Hand mit den unzähligen Ringen vor mir. Verdammt, was soll ich tun?!

Schließlich stöhnt Jordie ungeduldig, packt mein Handgelenk und legt ihre Hand in meine. »So, dann hätten wir das geklärt!«

Tja, ich schätze, sie hat recht.

NachtluftDonde viven las historias. Descúbrelo ahora