04 | Ozean der Gedanken

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Das Fenster, gegen das ich meine Kopf gelehnt habe, ist kalt. Die Regentropfen von draußen rinnen wie Tränen am Glas hinunter und die Kutsche, die uns zum Bahnhof bringt, fährt jetzt am alten Hafen vorbei. Mir liegt ein seltsam bitterer Geschmack auf den Lippen, als ich durch den Regenvorhang die braunen und grauen Umrisse der alten Fischershäuser mir vorbeiziehen sehe.

Ich mochte diesen Teil von Distrikt vier nie besonders, doch jetzt, wo ich ihn vermutlich zum letzten Mal sehe, habe ich das Gefühl, ihn nie mehr verlassen zu wollen. Noch sind nur wenige Bewohner nach der Ernte zum Hafen zurückgekehrt, doch die, die ich im Vorbeifahren sehen kann, bleiben still. Tatenlos.

Keiner regt sich, sie alle sehen uns nur mit emotionslosen Blicken durch den Regenvorhang hindurch in die Gesichter. Ich ertrage diesen Anblick nicht, also wende ich mich vom Fenster ab und starre stattdessen zu Boden.

Und sofort drängen sich wieder die Bilder in meinen Kopf. Die schrecklichen Bilder der letzten halben Stunde, die ich nie wieder in meinem Leben, egal, wie lang es noch sein mag, vergessen werde. Aline wollte mir helfen und wurde von den Friedenswächtern geschlagen und tödlich verletzt.

Nein. Nein, das muss ein schrecklicher Albtraum sein. Doch das ist es nicht.

Ich bin auf dem direkten Weg ins Kapitol, auf dem direkten Weg in die Hungerspiele. Ich habe kaum noch ein Zeitgefühl, also weiß ich nicht, nach wie vielen Minuten Fahrt die Kutsche zum stehen kommt und meine Füße mich heraustragen.

Nur noch wenige Meter trennen uns nun vom alten Bahnhofsgebäude, doch der gesamte Weg dorthin ist besetzt mit Friedenswächtern, die darauf bedacht sind, jeden möglichen Fluchtversuch von Jacek oder mir zu verhindern.

Auch ein paar Leute mit riesigen Kameras versuchen, durch die Reihen der Friedenswächter hindurch so viele Aufnahmen wie möglich von uns Tributen zu erlangen. Schon bereue ich es, geweint zu haben. Sicherlich sieht man mir die Tränenspuren noch an und sie werden gerade live im Kapitol gezeigt.

Ich bin beinahe erleichtert, als wir endlich in der alten Bahnhofshalle angekommen und die starrenden Blicke endlich fort sind. Saphire, die von nun an unsere Betreuerin ist, leitet uns den Weg zur Eingangstür des Zuges.

Ihrem vorfreudigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen sieht es so aus, als könne sie es kaum erwarten, hineinzusteigen und Distrikt vier hinter sich zu lassen. Freudig klatscht sie einmal in die Hände und dreht sich auf der Türschwelle zu Jacek und mir um.

„Na los!" quietscht sie freudig und tritt einen Schritt zur Seite, damit wir einsteigen können. Ihr ungeduldiger Blick liegt auf Jacek und mir. Und selbst er blickt noch einmal zurück und versucht, einen Blick auf die grauen Wellen in weiter Ferne zu erhaschen, doch dann steigt er ein. Ich schlucke meine Angst um Aline hinunter und folge ihm.

Mit einem leisen Zischen schließt sich die gläserne Tür hinter uns, doch Saphire weist Jacek und mich nochmal an, uns umzudrehen. „Schön in die Kameras dort hinten winken! Verabschiedet euch von euren Zuhause und freut euch umso mehr aufs Kapitol!" piepst sie.

Ein letztes Mal nehmen die Kameras auf, wie wir uns auf der Schwelle umdrehen und stumm winken. Selbst wenn ich noch etwas sagen könnte, Worte fände ich sowieso keine. Was soll man auch sagen, wenn man seinem Tod entgegenfährt.

Mit einem Ruck setzt sich der Zug schließlich in Bewegung und nach wenigen Sekunden bietet der Blick aus der Tür nur noch Dunkelheit. Ich merke, wie meine bis eben versuchte Haltung für die Kameras mich sofort verlässt.

Wie gerne wäre ich jetzt Zuhause. Mit Lim, Annie und Aline am warmen Kamin sitzen und Lims Geschichten zuhören. Ketten aus Muschelschalen basteln. Alte Lieder aus der Heimat singen. Doch diese lasse ich nun für immer hinter mir.

Tribute von Panem | Flüsternder OzeanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt