16 | Der See

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Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

Die Stimme meiner Mutter hallt in meinem Kopf wider. Es war ein kalter Winterabend damals, an dem ich gemeinsam mit Nale Fisch aus der Lagerhalle stehlen wollte. Doch es endete damit, dass ich weinend in den Armen meiner Mutter saß, die mich zu beruhigen versuchte. In diesem eiskalten Winter war Nales kleiner Bruder gerade zur Welt gekommen. Der Fischfang zuhause war in diesem Jahr so knapp, dass beinahe alles davon ans Kapitol ging. Das bedeutete, dass vor allem die ärmeren Familien im Distrikt nichts hatten, um ihre Kinder zu versorgen. Also hatten Nale und ich eines Nachts versucht, Vorräte aus der Lagerhalle zu stehlen, um seinen kleinen Bruder vor dem Hungertod zu bewahren. Doch ein Friedenswächter hatte uns erwischt. Zum Glück waren wir schneller als er - doch trotzdem, die Angst, die mein elfjähriges Ich in diesem Moment verspürt hat, habe ich bis heute nicht vergessen. Doch genau so Moms Worte, als sie mich damals in den Armen gehalten hat.

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

Die Hitze in der Arena hat noch einmal zugenommen, und die Erinnerung hilft mir, trotzdem die Kontrolle über meinen Körper zu behalten. Mittlerweile muss ich schon beinahe eine Stunde unterwegs sein, doch von dem See, den ich suche, fehlt noch jegliche Spur. Inzwischen hat sich der Horizont schon rötlich gefärbt, doch die Natur um mich herum leuchtet immer noch in unzähligen Farben.

Wo ist der See bloß? Bin ich womöglich schon vor Minuten in die falsche Richtung abgebogen? Doch ich muss die Wasserquelle finden! Alles andere bedeutet nicht nur meinen Tod, sondern auch den von Aline und meinen anderen Geschwistern.

Das Brennen in meinen Augenwinkeln meldet sich zurück, doch auch dieses Mal lasse ich es nicht zu, dass die Verzweiflung mich überwältigt. Doch trotzdem, langsam muss eine Lösung her, sonst ... ein trockenes Knacken. Unmittelbar in meiner Nähe, laut wie der Tritt auf einen Ast. Meine Hand schnellt zur Klinge an meinem Gürtel und ich sehe mich um.

Da hinten ist tatsächlich jemand! Noch bevor ich erkennen kann, wessen Umrisse gerade durch das Gestrüpp laufen, haste ich hinter einen massiven Baumstamm. Einige Sekunden lang verharre ich, ohne ein noch so kleines Geräusch zu verursachen, dann packt mich die Neugier wieder. Vorsichtig spähe ich hinter dem Stamm der Palme hervor. Nun etwa zwanzig Meter von mir entfernt, schleicht tatsächlich das Mädchen aus fünf durch den Dschungel. Sie scheint mich nicht entdeckt zu haben, stattdessen stapft sie in eine andere Richtung. Sie trägt nichts bei sich, außer einen silbern glänzenden Speer. Sucht sie etwa auch nach Wasser? Weiß sie womöglich, wo der See sich befindet?

Bis vor ein paar Stunden hätte ich das noch kaum von mir gedacht, doch schließlich nehme ich meinen Mut zusammen und folge ihr. Die Orientierung habe ich längst verloren - zu hoffen, dass Jenna es nicht hat, ist wohl meine letzte Hoffnung auf Wasser.

In gebührenden Abständen husche ich zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch, immer darauf bedacht, dass Jenna mich nicht entdeckt.

Es vergehen einige Minuten, in denen bloß das Zwitschern der letzten Vögel und meine Schritte über dem Dschungelboden zu hören sind. Man könnte beinahe sagen, es wäre schön - wäre da nicht mein quälender Durst.

Nach einer Weile scheint mich der Schwindel endgültig überwältigt zu haben.

Bunt verschwimmt die Landschaft vor meinen Augen, das Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter, ich taumele vorwärts und - Rumms.

Ich bin gestürzt. Ich schmecke Erde, Staub und Gras. Ich höre bloß meinen Herzschlag, die Welt vor meinen Augen ist noch immer verschwommen. Grün, braun, grau, blau ... Blau! Mit einem Mal sehe ich wieder klar. Und tatsächlich! Selbst vom Dschungelboden aus kann ich in der Ferne das Glitzern eines Sees erkennen. Das ist meine Rettung!

Tribute von Panem | Flüsternder OzeanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt