Kapitel Fünf

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Als Isabel und Christine aus Arendal zurückkamen, war es schon weit nach siebzehn Uhr. Der Stin warf einen langen Schatten über den Garten und erinnerte Isabel an einen mahnenden Zeigefinger. Sie schlich in ihr Zimmer und kramte im Schrank nach dem Feldstecher, den ihr Vater früher zur Jagd benutzt hatte.

Doch der Stin war so leer, wie sie sich fühlte.

Sie hatte ihn verpasst.

Mit Tränen in den Augen ließ sie sich auf ihr Bett fallen, stellte die alte Stereoanlage an, schloss die Augen und lauschte den Klängen von Bonnie Tylers »Total Eclipse of the heart.« Sie liebte die alten CDs und Platten ihres Vaters. Diese alten Songs bedeuteten noch etwas und sie konnte ihren Tränen endlich freien Lauf lassen, als das Klingeln ihres Handys sie aufschrecken ließ.

„Hallo?"

„Isabel?" Emilys Stimme klang dünn.

„He ... Ist was passiert?"

„Ich weiß nicht." Emily klang unschlüssig. »Vielleicht bedeutet das alles ja auch gar nichts. »

Emily war Isabels beste Freundin. Sie hatten sich sofort gemocht, als Isabel vor sechs Monaten nach Norwegen gekommen war. Durch das Schicksal ihres Bruders, der nach einem Unfall in ein tiefes Koma gefallen war, hatte Emily, genau wie Isabel auch, schnell erwachsen werden müssen. Sie mochten beide keine wilden Partys, hassten Lady Gaga und den ganzen anderen Mist, der gerade die Radios rauf und runter dröhnte, und waren auch sonst nicht so unbeschwert wie andere Mädchen ihres Alters.

»Du musst doch wissen, ob etwas passiert ist, oder nicht«, bohrte Isabel.

„Das ist ja das Problem. Noch ist nichts passiert. Aber es könnte vielleicht bald etwas passieren!" Emily sprach so leise, dass Isabel Mühe hatte, sie zu verstehen. „Es ist wegen Bo." Isabel versuchte Emilys aufgeregtem Bericht zu folgen, verlor jedoch irgendwo zwischen ungewöhnlichen Hirnaktivitäten und Herzrasen den Überblick.

„Halt! Stopp", unterbrach sie schließlich Emilys Redefluss. „Heißt das, dass dein Bruder aufwacht?"

„Doktor Edvardsen möchte sich noch nicht dazu äußern. Aber He! Das EEG hat eindeutig Tätigkeiten in Bereichen aufgezeichnet, in denen es gar keine geben dürfte.«

»Und von welchen Bereichen sprechen wir konkret?«

Isabel sah sich nicht gern in der Rolle des Miesmachers, aber wenn sie eines im Leben gelernt hatte, dann war es, dass im Normalfall Hoffnungen enttäuscht, und Gebete nicht erhört wurden.

»Zum Beispiel im Zentrum für die Motorik.«

»Wow!" Isabel war überrascht. »Das sind aber wirklich gute Neuigkeiten.« Sie freute sich für Emily. Wenigstens ein Lichtblick heute. Automatisch wanderte ihr Blick durch das Fenster zum Hyggestin.

„Ja.« Emily klang nachdenklich. »Allerdings fängt jetzt alles wieder von vorne an."

„Was fängt wieder von vorne an?" Isabel versuchte, sich auf Emily zu konzentrieren und das Paar grauer Augen aus ihren Gedanken zu verbannen, das sich hartnäckig zeigte, sobald sie die Augen schloss. Vergeblich!

„Dieses Hoffen. Dieses gottverdammte Warten, dass sich etwas ändert und dass Bo zu uns zurückkommt." Emily blies hörbar die Luft aus. »Es wäre leichter für uns alle, wenn wir wüssten, dass er nie wieder aufwacht.«

»Dafür musst du dich nicht schämen.« Isabel versuchte, ihr ganzes Verständnis für Emilys Situation in ihre Stimme zu legen, wenn sie ihre Freundin schon nicht in den Arm nehmen konnte. »Nicht zu wissen, auf was man sich einstellen muss - das ist die Hölle.«

Windcrawlers -Where stories live. Discover now