64 - Schande

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Mays Haar schimmerte silbern im Licht der Fackel, als sie durch den Torbogen trat. Sie zitterte am ganzen Leib, krallte die Hand um das Holz in ihrer Hand und ging ohne irgendeine Art von Schutz hinaus auf den Platz. Sie wusste nicht einmal, was sie sagen würde, wenn Coria und Alcha tatsächlich mit ihr sprechen würden.

Was hatte man dem Orden erzählt? Welche Geschichte hatte Julians Schwester gesponnen, um Mays Verschwinden aus den Türmen zu erklären? Wer glaubte dieser Version der Dinge und wer hatte seine eigenen Theorien?
Sie hatte sich viele Gedanken gemacht in den trüben unendlichen Nächten, in denen sie in dieser fremden Stadt wach gelegen war, bis sie daran zweifelte, ob ihre eigene Mutter ihr glauben würde, was wirklich geschehen war.

Die Knochenschwestern würden sie nicht ohne Anhörung umbringen – das untersagte ihnen der Moralkodex des Ordens. Julian wusste das genauso gut wie May selbst, deswegen war sie es, die sich alleine den gefährlichsten Killerinnen im Dienste des Ordens stellte.
Sie hoffte so sehr, dass sie es irgendwie schaffen würde, zu vermitteln. Gleichzeitig war sie sich ziemlich sicher, dass sie nur hier war, um Zeit zu schinden.
Doch was konnte sie schon sagen?
Sie würde einmal mehr versagen. Es war fast, als könne sie Rya in der Ferne lachen hören – zu nichts zu gebrauchen.

May kam neben dem toten Jungen zum Stehen, wie Julian vorgeschlagen hatte. Julian, dem es immer um ein nobles höheres Ziel ging. Der alles tat, um Fremde zu retten und sie gebeten hatte, ihm ein letztes Mal blind zu vertrauen. Der geschworen hatte, dass er Hades beinahe soweit gehabt hatte, sie wieder freizulassen. Den sie nicht mehr gesehen hatte, seit er am Tag vor seiner Hinrichtung zu ihr gekommen war. Dem sie das Leben gerettet hatte. Der ihr geschworen hatte, ihren Bruder zu rächen.

Das Feuer in ihrer Hand warf harte Schatten auf ihr Gesicht, ganz im Gegensatz zu dem sanften Glühen des Caz Kristalls in ihrer Brust, während sie wartete.
Sie war der Köder, das panische Kaninchen, das man sanft unter die Schlangen setzte. Sie fühlte sich wieder ein wenig wie das Mädchen, das sie gewesen war, bevor die Caz Kristalle ihren Namen sangen und sie gegen Dominique kämpfte. So verletzlich, so fragil, obwohl sie alles tat, um stark zu sein.
Hilflos.

Die Flammen flüsterten, während sie sich zwang nicht zu dem Toten zu ihren Füßen hinunter zu sehen. Funken vom ölgetränkten Leinen der Fackel segelten hinunter und erloschen zischend, als sie auf das Blut trafen, das sich in den Rinnen zwischen den groben Steinen gesammelt hatte.
Sie stand lange dort, mit pochendem zerbrochenem Herzen, und lauschte. Doch das hätte sie gar nicht müssen, denn als Coria letztendlich aus den Schatten auftauchte, war sie lautlos wie eine Wölfin.

Ihre Haut war ebenso mondhell wie Mays, doch die Knochenschwester legte nichts von der Zartheit an den Tag, die Mays Gestalt zeichnete.
Ihre Arme waren muskulös wie Julians, ihre Schultern breit und das Gesicht, das normalerweise kalt und gefasst war, verzerrt vor Schmerz und Wut. Sie kam über die Pflastersteine auf May zu, schnell und bedrohlich, ein verwundetes wildes Tier.
Die Hohe wich zurück, doch zu spät. Die Knochenschwester schlug May mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schlag echote über den Platz, während die Hohe zu Boden ging.

„May Silencia."

Mays Kopf dröhnte, Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie hatte die Geistesgegenwärtigkeit rückwärts von Coria weg zu rutschen. Sie hätte sich beinahe übergeben, als sie mit dem Rücken an die Leiche hinter sich stieß. Die Knochenschwester zog sie unsanft in die Höhe.

„Hast du sie ausgeliefert? Hast du sie gespürt und verraten?", brüllte sie. May hatte den Kopf zur Seite gedreht und die Augen zugekniffen, wie ein Kind. Coria packte ihr Kinn und zwang May, sie anzusehen, so ruckartig, dass es weh tat.

„Ich habe sie nicht ausgeliefert", wimmerte May, „Du weißt, dass ich das nie tun würde."

„Du lügst", sie stieß die Hohe zu Boden, „Niemand könnte Cheleste festnehmen. Niemand könnte sie in einem sauberen Kampf umbringen."

„Coria, bitte ...", May hob zitternd eine Hand, um zumindest ein paar Worte herauszubekommen, bevor die Knochenschwester sie noch schlimmer zurichtete.

„Sie haben mich gefangen gehalten. Ich wusste nichts."

Die Wut in den Augen der Ordensdame war bodenlos, als sie May anfunkelte.

„Erwarte keine Gnade, wenn du hierbleibst."

„Warte", May richtete sich ächzend auf. Ihre Wange brannte immer noch so sehr von der Ohrfeige, dass sie sich sicher war, alle fünf Finger der Knochenschwester als Abdruck auf ihrer Wange zu tragen.

„Ihr könnt nicht auf die Zivilisten schießen", flehte May, „Das ist nicht die Art des Ordens. Wir stehen für Recht, nicht für Anarchie."

Wir", Coria wirbelte herum und funkelte May an, die schon zurückzuckte, ohne dass die Knochenschwester die Hand gegen sie erhob, „Wir, May Silencia, stehen für gar nichts. Keine Dienerin der Sterne würde ihresgleichen verraten."

Sie ließ ihren Blick an May hinunter tanzen, die trotz des Bluts, das nun an ihrem Kleid klebte, viel zu gut angezogen und frisiert war, um eine gewöhnliche Gefangene zu sein.

„Ich habe gesehen, wie sie gestorben ist. Sie haben mich gezwungen zuzusehen", Mays Stimme brach, „Ich gehöre nicht zu ihnen. Aber, Coria, ich flehe dich an – drehe dich um und verschwinde von hier. Sie werden euch umbringen, wenn ihr angreift."

May nahm kaum war, wie hinter ihr die Tore zur Arena aufgingen und nach und nach Menschen hinaus auf den Platz strömten. Im Halbdunkel sahen sie die Ordensdamen zuerst nicht. Mays Fackel war schließlich zu Boden gefallen und Coria trug kein Licht.

„Sie haben Cheleste umgebracht", sagte die ältere Frau, nun nicht mehr rasend, sondern tonlos, die Augen auf der Menge „Sie haben das hier gewählt."

Ihr Blick flackerte, als sie anhängte:
„So tief bist du also gesunken, May Silencia? Du verteidigst Farblose? Du hast deinen Platz vergessen. Weißt du, wie sehr sich deine Familie für dich schämt? Wie sehr sie leiden, weil du verräterisches Wesen dem Orden den Rücken gekehrt hast? Euer Name ist in Verruf, eure Macht kaum noch existent. Dominique hat deine Mutter aus dem Gericht verstoßen. Inzwischen wünscht sich sogar sie, dass du anstelle deines Bruders gestorben wärst."

Immer noch strömten Menschen aus dem Theater. Sie kamen näher, lachend, euphorisiert, triumphierend. Coria machte keine Anstalten, zu gehen. Stattdessen zog sie eine Plasmaklinge von ihrem Gürtel. Eine Waffe des blauen Adels, nicht des Ordens, die sie vor allzu kurzer Zeit nicht einmal angefasst hätte.

„Tu' das nicht", warnte May noch einmal. Die Menschen hielten inne, als sie die Ordensdamen sahen, die scheinbar ganz ruhig in der Mitte des Platzes standen, eine Leiche zu ihren Füßen.

„Geh'", forderte Coria, während die ersten Schreie erklangen und Menschen verängstigt zurückstolperten. Die Knochenschwester ging an May vorbei und diese packte verzweifelt deren Arm, um sie aufzuhalten. Coria wischte May fort wie eine Fliege. Erneut knallte sie schmerzhaft auf das Pflaster. Verschwommen sah sie, wie die bläulich schimmernde Klinge einen Bogen beschrieb. Das ist es, dachte May noch, so sieht es aus, wenn du versagst. Menschen sterben deinetwegen.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now