6. Der Mann der vielen Namen

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"Come back. Even as a shadow, even as a dream" — Euripides

Die letzten Tage vor den Weihnachtsferien verliefen recht entspannend in der Schule. Alle Arbeiten waren vorerst geschrieben und die Lehrer waren zu sehr in Festtagsstimmung, um wirklich Unterricht zu machen.

Meine Brüder sorgten daheim für Stimmung und mit ihnen war unser Haus nun so voll, dass es wirklich immer laut war.

Ich hatte mich schon gefragt, wieso wir überhaupt Weihnachten feiern als Teil der Wächter, immerhin glaubten wir dadurch ja an so viele Religionen, wieso entschieden wir uns also für die christliche Variante? Laut meiner Mum sieht das jede Familie anders, wir feiern es so, weil wir in einem christlich orientierten Land leben und meine Mum eben Katholikin ist, sie ihre Tradition beibehalten will.

Daisys Familie zum Beispiel feiert kein Weihnachten, dafür das Fest der Wintersonnenwende, das Julfest, da ihre Familie ursprünglich alle aus Skandinavien stammen und für sie die ganzen nordischen Traditionen immer noch zum Teil von Bedeutung sind.

Die Tatsache, dass Reed offiziell wieder da war, ich ihn gesehen hatte, das hatte ich bisher für mich behalten. Eigentlich hatte ich ja Elin darüber informieren wollen, aber das alles hatte mich zu sehr aus der Bahn geworfen. Ich konnte immer noch nicht ganz begreifen, dass er wirklich da war, dass ich ihn gesehen hatte. Auch dass offenbar alles stimmte, was man über ihn berichtete, war so schwer zu verkraften. Ich versuchte vorerst nicht zu viel darüber nachzudenken, auch wenn ich jemandem von ihm erzählen müsste, kein Weg daran vorbeiführte auf Dauer. Bis es jedoch so weit war, würde ich erst einmal meine Gedanken und Gefühle etwas ordnen müssen. Ich war ganz ehrlich einfach nur baff von allem.

Das London zur Weihnachtszeit war ein unfassbarer Anblick, der meine Gemütslage sogar etwas heben konnte. Überall hingen bunte Lichter, Weihnachtsschmuck, die Schaufenster waren voller Christbaumkugeln und Tannenbäumen, und mit dem ganzen Schnee war es einfach magisch. Das wäre wohl das einzige Mal, dass ich der Stadt was Schönes abgewinnen konnte, den magischen Glanz in ihr sah, den sonst jeder ausmachen konnte.

„Wie kannst du noch keine Geschenke gekauft haben? Macht man das nicht immer so viel früher?", fragte Daisy, die so freundlich war, mit mir nun seit fast drei Stunden durch die Stadt zu irren, auf der Suche nach passenden Geschenken für meine Familie. Leider hatte ich furchtbar viele Familienmitglieder, so dass das ein Akt von harter Arbeit gewesen ist.

„Ich war etwas im Stress die Schule zu packen und da waren Geschenke eher zweitrangig", meinte ich verzweifelt, hatte es satt die ganzen Tüten zu schleppen, wollte langsam nur noch Heim, es war immerhin kalt und voll hier und wir hatten vorhin noch Schule gehabt, das war alles zu viel.

„Ja ok, das ist wahr." Ich brachte die Blondine zum Lachen, die so freundlich war, ein paar meiner Tüten zu halten. „Bin ich froh, solche Probleme nicht zu haben."

„Solltest du, wirklich. Ich bin pleite nach dem heutigen Tag. Danke nochmal, dass du mitgekommen bist, ich wäre sonst so verloren", bedankte ich mich, hätte es ohne sie niemals so schnell geschafft für alle was zu kaufen.

„Nicht der Rede wert, ich hätte eh nichts Besseres zu tun gehabt", sagte sie lächelnd.

„Was macht Hayden heute eigentlich? Er ist so schnell gegangen nach der Schule", fragte ich sie, aber wenn jemand wissen müsste, was Hayden tat, dann sie.

„Er hat immer noch viel im Quartier zu klären wegen Reed und seinen Eltern und alles, ist ziemlich kompliziert, so wie es aussieht, vor allem, weil andere Familienmitglieder von ihm sich nicht dazu äußern wollen und jetzt fast jeder unter Beobachtung steht."

„Beobachtung? Gauben sie etwa, jeder von ihnen plant etwas?", fragte ich irritiert.

„Ein Großteil von Haydens Familie väterlicherseits tickt nicht ganz sauber", erklärte sie mir.

Avenoir| Band 2 [18+] ✓Where stories live. Discover now