Der Junge mit der Brosche

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Der Stadthafen war eigentlich kein Hafen. Die Menschen der Stadt nannten ihn lediglich so, weil es imposanter klang als Anlegesteg für kaum genutzte Boote. Es war ein etwa fünfzehn Meter langer Steg, an dem unregelmäßig verteilt Fischerboote dümpelten und ein paar malerische Freizeithäuser der Reichen standen. Das Heim lag direkt hinter seiner Grenze und so konnte Kiara vom höchsten Fenster des Gebäudes auf die Promenade, wie Fräulein Krysia zu sagen pflegte, hinabblicken.
Einige Händler versuchten ihr Glück dort, sonst kamen nur die Besitzer der Häuser hierher, um sich ein wenig zu vergnügen. An manchen Tagen wagten sich die alten Fischer aufs Wasser, doch meistens kehrten sie mit magerer Beute zurück. Trotz ihrer guten Lage hatte Kiara noch nie einen Tag erlebt, an dem die Stadt für ihre Fischer bekannt gewesen wäre.
Einmal hatte ihre Großmutter sie bei ihren Nachbarn gelassen, um zur Arbeit zu gehen. Kiara war gemeinsam mit ihnen an den Strand gegangen. Der Vater der Familie hatte ihnen erklärt, warum sie das Ostseewasser nicht trinken durften, ehe er damit begonnen hatte, märchenhafte Sagen über die Tiefen des Meeres und seine Bewohner zu erzählen. Als Kiara daran dachte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Am Abend hatte ihre Großmutter klargestellt, dass es sich dabei nur um Albernheiten handelte und wenngleich es Kiara als kleines Mädchen erleichtert hatte, wurde sie bei der Erinnerung daran wütend.
Selbst in dieser Situation hatte sie sich nicht ernstgenommen gefühlt. Ihre Ängste waren für ihre Großmutter nur Humbug und Drama gewesen, von dem sie nichts hören wollte. Kiara verstand nicht, was sie mit dem Meer hatte. Wann immer es zur Sprache kam, wurden die Lippen ihrer Großmutter schmal und sie wechselte harsch das Thema. Ob es etwas mit ihrem Herkunftsort zu tun hatte? Ihre Großmutter hatte gesagt, der Junge, Fynn Król, würde mit einem Schiff weiterfahren. Womöglich kehrte er zurück nach Hause, zu dem Ort, aus dem Kiaras Großmutter stammte. Und wenn er das tat, konnte er ihr vielleicht auch sagen, was mit ihren Eltern passiert war.
Am Rande des Hafenbezirkes angekommen, hielt Kiara einen Moment inne, um nach Luft zu schnappen. Ihre Wut war noch nicht verflogen, das noch lange nicht, aber sie war wieder ein wenig abgekühlt. Kiara wusste, dass sie ihre Großmutter nicht so hätte anfahren sollen, doch sie war sich einmal im Leben sicher, nichts falschgemacht zu haben. Alles, was sie wissen wollte, war was passiert war, bevor ihre Großmutter sich ihrer angenommen hatte. War es so verwerflich? Wo man ihr doch ihr gesamtes Leben lang beigebracht hatte, dass das, was man durchlebte, einen zu dem machte, was man wurde?
Kiara seufzte leise und schüttelte den Kopf. Darüber konnte sie sich Gedanken machen, wenn sie diesen Fynn gefunden und mit ihm gesprochen hatte. Der Hafenbezirk war ebenso winzig wie sein Namensgeber und obwohl sie glaubte, eine ungefähre Auswahl an Orten zu haben, an denen der fremde Junge auf seine Abreise warten konnte, musste sie unwillkürlich schlucken.
Ihr wurde bei dem Gedanken, wie viele Stadtwachen hier so kurz nach der Sperrstunde patrouillierten, richtig schlecht. Vielleicht sollte sie zurück ins Heim schleichen und dort den Schutz der Dunkelheit abwarten. Dann wäre sie auch beim Abendzählen da und man würde sich nicht auf die Suche nach ihr machen. Andererseits wusste sie von heimlichen Ausflugsversuchen, dass Fräulein Krysias Verlobter, der Wachmann des Heims, des Nachts mit seinem Gehilfen den Ausgang bewachte und sie sofort dabei erwischen würde, sich wieder nach draußen zu schmuggeln. Wenn sie jedoch bis zur Morgendämmerung wartete, wäre das Schiff abgefahren und mit ihm die einzige Möglichkeit, an Informationen heranzukommen.
Kiara fluchte leise und lief weiter. Wenn sie das Risiko dafür eingehen musste, endlich Antworten zu bekommen, würde sie das eben tun. So leise wie sie es fertigbrachte, huschte sie durch die immer dunkler werdenden Gassen. Die Sonne hatte sich längst zurückgezogen, doch nun verschwanden auch ihre letzten Überreste. Nur noch das Licht, das durch die hoch gelegenen Fenster der Häuser fiel, erlaubte ihr, grobe Umrisse zu erkennen. Das war für Kiara sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil. Immerhin würde man sie nicht sofort entdecken. Umso schwerer würde es allerdings werden, wenn sie diesen Fynn finden wollte.
Kiara hoffte bloß, dass er sich in irgendeinem Hotel aufhielt, das eine Hintertür hatte, sonst hätte sie keinerlei Chancen, zu ihm zu kommen oder ihn zu finden. Vielleicht sollte sie sich einfach beim Hafen verstecken und dort auf ihn warten. Ein wirklich unauffälliger Zeitgenosse war er ja nicht. Das Problem war bloß, dass ein Schiff, das bei Nacht ablegte, womöglich auch erst bei Nacht ankommen würde. Kiara hatte keine Ahnung, wie sie so lange unentdeckt warten sollte. Noch mehr, sie musste sich eingestehen, dass sie schlicht und einfach keine Ahnung hatte, wie sie Fynn Król finden und dazu bringen sollte, ihr zu verraten, was er wusste.
In diesem Moment durchbrach eine Stimme die Stille, die die Straßen ab der Sperrstunde einhüllte. Zwei sich lautstark unterhaltende Männer bogen um die Ecke in Kiaras Gasse ein. Der eine hielt eine Laterne, der anderen hatte einen Hund an der Leine. Einen Augenblick lang fühlte Kiara sich wie in Bernstein gegossen und mit dem Boden verwachsen. Dann reagierten ihre Reflexe und sie hechtete hinter eine Mülltonne in einer Sackgasse direkt neben ihr.
Sie kauerte sich so tief in die Dunkelheit wie sie nur konnte und kniff die Augen zusammen. Die Stimmen der Männer kamen näher, sie klangen weiterhin unbekümmert und munter, während sie scheinbar darüber schwatzten, wie sich einer ihrer Kollegen an diesem Nachmittag lächerlich gemacht hatte. Sie hatten Kiara wohl nicht bemerkt, was ein Glück. Nur das Winseln des Hundes bereitete ihr Sorgen. Was, wenn er sie riechen konnte?
Als hätte die Luft nur darauf gewartet, dass sie diese Worte dachte, stieg ihr der Geruch des Mülleimers in die Nase. Kiara verzog das Gesicht und presste die Hand auf ihren Mund, um nicht zu würgen. Es roch als hätte jemand vergammeltes Fleisch gebraten und erst dann bemerkt, dass etwas damit nicht stimmte. Sie nahm zurück, was sie sich soeben gefragt hatte. Wäre sie ein Hund, würde sie auch über diesen Gestank winseln, egal, welche Verbrecher sich in der Nähe herumschlichen. Ausnahmsweise hätte sie über den Geruch von Verwesung jubeln können.
Nach etwa fünfzig Sekunden entfernten sich die Stimmen wieder in die entgegengesetzte Richtung und Kiara erlaubte sich, laut auszuatmen, als sie sich sicher war, nichts mehr zu hören. So sehr es ihr auch geholfen hatte, genau in diese Gasse zu stolpern, sie wollte nicht länger als unbedingt nötig hierbleiben und so kroch sie wieder hinter den Tonnen vor und rannte geduckt weiter Richtung Meer. Vorerst, so beschloss sie, sollte das ihr Ziel sein. Nacht war ein Begriff, der viele Uhrzeiten miteinschloss und vielleicht, nur vielleicht, würde das Schiff ja noch vor Mitternacht ablegen. Womöglich, wenn sie wirklich Glück hatte, hatte es sogar schon angelegt und sie könnte sich ein wenig umhören.
Wobei sie sich wirklich fragte, wer um diese Uhrzeit aus der Stadt verschwinden wollte. Auch für Gäste galt die Sperrstunde. Sicherlich würde die Stadtverwaltung kein Anlegen in der Nacht genehmigen. Was also hatte dieser Junge vor? Je länger Kiara darüber nachdachte, desto komischer kam ihr das vor. Ein fremder Junge, der laut ihrer Großmutter aus dem gleichen Ort wie Kiaras Familie stammte, ging auf Reisen und machte auf dem Weg zurück nach Hause einen Abstecher zu einer ehemaligen Freundin seiner Familie, die er mit Sicherheit nie selbst getroffen hatte. Und wie tat er das? In einem altmodischen, überaus auffälligen Umhang. Noch dazu kam das Gespräch mit Kiaras Großmutter. Irgendwas wussten sie beide, von dem Kiara keine Ahnung hatte. Was immer es war, es machte den Jungen wütend und ihre Großmutter unglücklich. Kiara konnte nur ahnen, dass es mit etwas zusammenhängen musste, das in ihrer Heimat passiert war.
Aber noch verwirrender für sie war, wie geheimnisvoll das gesamte Auftreten von diesem Fynn war. Er verschwand zum Hafen, er fuhr zur Zeit der Sperrstunde ab und obwohl sie sich ganz sicher war, dass er sie in den Schatten gesehen haben musste, hatte er kein Wort darüber verloren. Jeder normale Mensch hätte doch zumindest gefragt, was das sollte und ob alles in Ordnung war. Stattdessen hatte er ziemlich schlecht geschauspielert und war fluchtartig verschwunden.
Einen Augenblick lang hielt Kiara inne und runzelte die Stirn. War sie sich wirklich sicher, dass sie mehr über Fynn und das, was passiert war, herausfinden wollte? Sicher, wenn es um die Vergangenheit ihrer Großmutter und die Identität ihrer Eltern ging, wollte sie endlich Informationen, aber sie musste sich auch eingestehen, dass sie sich unsicher war, ob sie das, was auch immer vor ihr verheimlicht wurde, erfahren wollte. Sie mochte vielleicht unheimlich wütend auf ihre Großmutter sein und sie fühlte sich verraten von ihr, doch sie wusste auch, wie gut ihre Intuition war. Wenn sie diesem Jungen nicht traute, sollte Kiara es auch nicht tun.
Aber ich vertraue ihm ja nicht, versuchte sie, sich selbst einzureden. Ich will nur hören, was er über meine Familie zu sagen hat und herausfinden, woher ich komme. Mehr werde ich gar nicht mit ihm zu tun haben. Er wird wieder verschwinden und das war es.
Ein Knacken durchbrach Kiaras Gedanken und ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, doch es war viel zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Plötzlich fühlte Kiara sich beobachtet. Sie verengte die Augen und versuchte, genauer hinzusehen. Für einen Moment meinte sie, eine Silhouette in der Finsternis zu sehen, nur wenige Meter von ihr entfernt, doch just in diesem Moment ertönte hinter ihr ein lautes Bellen.
»Hey! Wer ist da?«, brüllte eine Stimme, die sie als die von einem Wachmänner erkannte. Die Hauswände warfen ihre Schritte zurück, Kiara wusste nicht mehr, aus welcher Richtung sie kamen, wohin sie rennen sollte. Das Bellen wurde immer lauter. Hektisch suchte sie die Umgebung nach einem weiteren Glücksgriff um, nach einer Mülltonne, einer geöffneten Tür, nach irgendetwas. Sie glaubte, zu sehen, wie die Schatten sich bewegten, als liefen sie auf sie zu, doch sie konnte sich nicht darum kümmern, was das war.
Ehe sie davonrennen konnte, erschien das Licht der Laterne direkt vor ihr. Der Wachhund knurrte und sie konnte sich viel zu bildlich vorstellen, wie der Geifer von seinen Lefzen tropfte, wie die Wachmänner sie zufrieden festnehmen würden. Kiara hatte keine Ahnung, was sie mit ihr anfingen, würde sie sie erst erwischt haben. Im Heim kursierten haufenweise Schauergeschichten, aber so richtig wusste es niemand.
Kiara wollte umdrehen und rennen. Sie wollte um ihr Leben rennen, zurück ins Heim, irgendwo hin, wo sie sich verstecken konnte. So wie sie es heute schon einmal getan hatte. Doch sie konnte nicht. Ihre Beine zitterten und ihr Atem ging schon jetzt viel zu flach. Sie fühlte ihr Herz gegen ihre Rippen pochen als sei es ein Kanarienvogel, der in die Freiheit entkommen wollt. Doch es war gefangen. Genauso wie sie in ihrer Starre.
Sie wartete. Sie wartete darauf, dass die beiden Wachen zu ihr kommen und sie festhalten würden. Auf die Drohungen, die sie erhalten würde, wenn sie ihnen keine zufriedenstellende Antwort geben konnte. Doch nichts geschah. Keiner der beiden Männer rührte sich von der Stelle, nur der Hund kläffte noch immer und sprang vorwärts, wurde jedoch von seiner eigenen Leine zurückgehalten.
Irgendwann, Kiara war sich nicht sicher, wie viel später, schüttelte der untersetztere der beiden Männer den Kopf und sagte: »Du musst dich geirrt haben. Hier ist niemand.«
»Ich bin mir ganz sicher, ich habe etwas gehört«, widersprach sein Mitarbeiter und leuchtete noch einmal in die Straße hinein. Der Lichtstrahl fiel auf Kiara und sie kniff geblendet die Augen zusammen. Doch bereits eine Sekunde später ließ er wieder von ihr ab und wanderte weiter. Langsam öffnete sie die Augen wieder und blinzelte verwirrt.
»Siehst du?«, brummte der Erste. »Nichts. Bestimmt hat der dumme Köter nur eine Straßenkatze gehört. Lass uns weitergehen, ich habe keine Lust darauf, wieder eine Rüge zu bekommen, wenn wir bis zum Ende der Schicht nicht alle Straßen durchgegangen sind.«
Er wandte sich ab und ging weiter, den Hund hinter sich herzerrend. Der andere Mann blieb noch eine Weile stehen, starrte nachdenklich in die Gasse, ehe er den Kopf schüttelte und sich über die Stirn rieb. »Ich sollte weniger trinken.« Mit diesen Worten schritt er hinterher. Hüpfend verschwand die Laterne im Straßengewirr.
Kiara fühlte sich, als wäre sie mit einem Eimer eiskalten Wassers übergossen worden. Sie hatten sie doch gesehen. Sie mussten sie gesehen haben, das Licht hatte ihre Füße, ihren Oberkörper, sogar ihr Gesicht bedeckt. Es gab nichts, hinter dem sie sich hätte verstecken können. Und doch stand sie hier in der Dunkelheit und lauschte den Schritten, die sich immer weiter entfernten.
Nur langsam wagte sie es, wieder einzuatmen. Kiara hatte das Gefühl, ihr Brustkorb wäre mit einem Mal viel zu eng. Ihre Finger zitterten und sie ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten, damit niemand etwas sah. Dabei war gar niemand hier, der sie hätte sehen können. Träumte sie? Bildete sie sich das alles nur ein?
Neben ihr ertönte ein Ratschen und mit einem Mal flammte etwas auf. Sie wirbelte herum und zog die Schultern hoch, bereit, sich gegen irgendeinen Straßengauner zu verteidigen oder doch noch erwischt zu werden.
Doch anstatt eines Obdachlosen oder eine Wache erhellte das lange Streichholz das Gesicht eines Jungen, der kaum älter sein konnte als sie. Seine bernsteingoldenen, unnatürlichen Augen musterten sie misstrauisch, wie ein skeptischer, aber zahmer Wolf das bereits tote, erkaltete Fleisch mustern würde, das ihm ein Mensch hinwarf. Eine dunkle Haarsträhne spähte unter der altmodischen Mantelkapuze hervor.
Kiara wollte schon schreien, als Fynn Król einen Finger an die Lippen legte und den Kopf so langsam schüttelte, als ging er davon aus, sie wäre schwer von Begriff. Seine Augen huschten zum Ausgang der Gasse, dann wieder zu ihr zurück. Mit einem Mal schien ein Schleier nach unten zu fallen und die Umgebung wurde heller. Nicht so hell wie das Feuer, das bei weitem nicht, aber als hätte sich eine dünne Wolke vor die Sonne geschoben und wäre nun weitergezogen.
Der Junge musterte Kiara, die wiederum mit leicht geöffnetem Mund in sein Gesicht starrte und spürte, wie sich die tausenden von Fragen in ihr anzusammeln begannen, bis sie irgendwann an die Oberfläche platzen würden.
»Warum bist du mir gefolgt?«

Tänzerin der SchattenWhere stories live. Discover now