Kapitel 36

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In den nächsten Tagen bestand mein Program hauptsächlich aus Pferde füttern, striegeln und Sättel und Zaumzeuge einfetten. Ich bestaunte die wunderschön angefertigten Kopfstücke, die jedem Pferd einzel angepasst worden waren. Saphir behandelte mich immer noch wie alle andern und die schwarze Stute, die Blacky getauft wurde, vertraute mir jetzt langsam. Gestern hatte ich sie sogar kurz am Hals streicheln konnte, doch dann hatte sie sich entschieden, dass ich trotzdem gefährlich war und hatte sich in den hintersten Teil ihrer Box gedrängt.

Nachdenklich holte ich aus der Sattelkammer Putzzeug um den Friesen Zeus zu striegeln. Er war ein gutmütiger etwas älterer Friesenhengst, meisterte seine Show aber immer hervorragend. Heute Abend war die erste Aufführung an diesem Ort. Ich freute mich, denn ich durfte gratis zuschauen. Ich schnappte mir eine Bürste und strich mit sanften Strichen über Zeus' Fell, bis es wieder glänzte. Zeus frass genüsslich aus seiner Heuraufe und schnaubte ab und zu. Vorhin hatte mir Alessandro noch gesagt, dass er bald mit Saphir arbeiten könnte, denn seine Verletzung war schon fast verheilt. Ich freute mich, dass Saphir gesund wurde, doch ich fragte mich wie Alessandro mit ihm zurechtkam. Plötzlich tippte mir eine Hand auf die Schulter und ich liess fast die Bürste aus meiner Hand fallen. Ich war so sehr in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich die annähernden Schritte gar nicht gehört hatte. ,,Brauchst du Hilfe?", sagte eine Männerstimme und ich drehte mich um. Leon stand vor mir und lächelte mich schüchtern an. Ich wusste zuerst gar nicht, was ich sagen sollte. ,,Danke, aber mit Zeus werde ich glaub gut alleine fertig", meinte ich. Sofort bereute ich was ich gesagt hatte wieder, denn jetzt hätte ich gerne etwas Gesellschaft gehabt. Und Leon war ja wirklich nett. ,,Hat es noch ein anderes Pferd, das du putzen musst?", fragte Leon. ,,Ähm... Ja, ich sollte noch Shadow striegeln", stotterte ich. ,,Das kann ich übernehmen", meinte Leon und schnappte sich einen Striegel. Zuerst wollte ich ihm widersprechen, doch ich klappte meinen Mund wieder zu und putzte Zeus' Fell weiter. ,,Wie alt bist du eigentlich?", fragte Leon mich. Ich überlegte kurz. Wieviel Zeit war vergangen, seit ich mit James hierher kam? Sicher mehr als die zwei geplanten Wochen. Vermisste man uns etwa schon? Hatte die Schule schon wieder angefangen? Hoffentlich machte sich niemand grosse Sorgen. Ich war ja momentan in Sicherheit. ,,17. Bald werde ich 18", antwortete ich Leon. ,,Ich bin schon 18", lächelte dieser und schnappte sich Shadow's Huf um ihn auszukratzen. ,,Du hast doch gesagt, du hast dein Gedächtnis verloren", sagte Leon und ich biss mir auf meine Lippen. An das hatte ich gar nicht mehr gedacht. Zum Glück stand ich mit dem Rücken zu Leon, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. ,,Keine Ahnung, warum ich das weiss... Es war einfach in meinem Kopf!", ich versuchte verzweifelt zu klingen, obwohl ich das eigentlich schon war, denn ich hoffte fest dass Leon mir glaubte. ,,Vielleicht kommt ja dein Gedächtnis zurück!", jubelte Leon und als ich mich umdrehte strahlte er. Ich lächelte verlegen. ,,Das muss ich dann gleich Alessandro erzählen", meinte er. Als hätte Alessandro seinen Namen gehört, kam er plötzlich angelaufen. ,,Dad! Amy kriegt ihr Gedächtnis wieder!", erklärte Leon Alessandro wichtigtuerisch und fuchtelte mit den Armen. ,,Wie denn?", fragte jetzt Alessandro. Leon antwortete eifrig: ,,Sie weiss ihr Alter!" ,,Dann kann es gut sein, dass sie ihr Gedächtnis wieder kriegt, aber wir sollten uns nicht zu früh freuen", meinte Alessandro. Ich ahnte irgendwie, dass er wusste dass das mit dem Gedächtnisverlust gelogen war, aber vielleicht täuschte ich mich da. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, dass sich alle um mich sorgten, obwohl nichts war. Alessandro entfernte sich wieder und Leon und ich fuhren schweigend mit unserer Arbeit weiter.

Nach dem ich noch fünf weitere Pferde geputzt hatte, sagte Leon dass es genug für heute war und ich setzte mich erleichtert auf einen Strohballen vor Saphir's Box. ,,Amy!", rief plötzlich eine Stimme und ich sah wie Alessandro auf mich zu kam. ,,Kannst du mir helfen die Pferde für die Show zu richten?", fragte Alessandro mich. ,,Klar", meinte ich und nickte. Alessandro holte die wunderschönen verzierten Halfter und die verschiedenen Kopfschmucke hervor. Er zeigte mir an Shadow, wie ich alles befestigen musste und gab mir die Sachen für Zeus. Ihm gehörte die Farbe rot, dass hiess das Halfter, der Kopfschmuck und die Bandagen waren rot. Zuerst bürstete ich ihm noch seine prachtvolle Mähne und flocht sie ein. Nach vollen zwanzig Minuten war ich fertig mit allem und betrachtete mein Kunstwerk. All zu schön war es nicht, doch Alessandro meinte mit grinsendem Gesicht, dass es für die Vorführung reichen würde. Ich putzte auch noch Diamond heraus und zog ihr ihr Halfter, für sie in einem wunderschönen Meerblau, an und band sie anschliessend vor ihrer Box an.

,,So, jetzt musst du gehen sonst verpasst du den Anfang", sagte Alessandro zu mir und ich machte mich auf den Weg zum Zelt. Mittlerweile war es dunkel geworden, doch durch die Beleuchtung vom Zelt wurde alles wieder heller. Von überall strömten Besucher herbei um die Vorführung zu besuchen. In der Zeit, in der ich hier gewesen war hatte ich fast alle die beim Zirkus Balloon arbeiteten kennengelernt und so liessen mich die Türsteher auch ohne Ticket herein und wiesen mir einen guten noch freien Platz zu.

Bald fing die Vorstellung an. Der Zirkusdirektor Mr. Mallon eröffnete sie und gleich darauf führte der Jongleur seine Künste vor. Ich war beeindruckt, wie er seine Keulen durch die Luft fliegen liess. Dafür aber erntete er grossen Applaus. Er verbeugte sich noch kurz und verschwand danach hinter dem grossen roten Vorhang. Es folgte eine Akrobatiknummer, die aus reinem Bodenturnen und sonst vielen Kunststücken bestand. Der Höhepunkt war, als sie sich zu viert auf die Schultern standen und mit einem schönen Rückwärtssalto hinuntersprangen. Nach ihrer Nummer kam der Clown. Er hatte eine grüne Perücke, war stark geschminkt und hatte eine rote Nase. Er meisterte seinen Job perfekt und liess mich so sehr lachen, wie schon lange nicht mehr. Nach ihm folgten die Seiltänzer, bei denen ich fast nicht hingucken konnte, aus Angst dass sie runterfielen von dem hohen Seil. Danach kamen die Elefanten und schliesslich die von mir lang ersehnte Pferdenummer. Alessandro hatte sich in einen Frack gekleidet und hatte sich einen Zylinder aufgesetzt. Bei sich hatte er nur eine lange Peitsche. Das erste Pferd trabte in die Manege. Ich erkannte Diamond, die ich heute fertiggemacht hatte. Ihr Gang war traumhaft und ihre lange Mähne wehte ihr hinterher. Mit einem einzigen Schnalzer brachte Alessandro sie zum Galoppieren. Als sie zwei Runden gedreht hatte, kam noch Snowflake, ein wunderschöner weisser Hengst durch den Vorhang getrabt und reihte sich neben Diamond ein. Zusammen gaben sie ein tolles Par ab und zogen alle Aufmerksamkeit auf sich. Während Diamond weiter ihre Runden drehte, liess Alessandro Snowflake steigen und führte weitere Kunststücke wie Hinlegen und dem spanischen Schritt vor. Natürlich durfte auch Diamond ihr Können unter Beweis stellen und meisterte ihren Part genau so gut wie Snowflake. Jetzt kamen die zwei Friesen Shadow und Zeus herein. Alessandro liess sie neben den anderen zwei Pferden traben und galoppieren und sie wechselten die Seite und noch vieles mehr.

Bald war ihre Nummer fertig und die Pause wurde angekündigt. Ich lief nach draussen und ging auf direktem Weg zu dem Eingang für die Artisten beim Zelt. Alessandro hatte allen vier Pferden einen Strick an das Halfter gebunden und schaute sich suchend um. ,,Kann ich dir irgendwie behilflich sein", rief ich ihm zu. Als er mich erblickte lächelte er dankbar und hielt mir die Führstricke von Diamond und Snowflake hin und ich nahm sie in die Hand. ,,Kannst du sie zum Stall führen, aber vorher noch ein paar Runden mit ihnen gehen? Sie habe geschwitzt und ich möchte sie noch ein bisschen abkühlen lassen", sagte Alessandro. Ich nickte und ging los in Richtung Stall. Vor dem Stall führte ich die Pferde in langsamem Schritt einige Runden und führte sie schliesslich in den Stall in ihre Boxen. Ich legte ihnen noch eine Decke um, damit sie sich nicht erkälteten und schloss ihre Boxen ab. Gerade, als ich den Stall verlassen wollte, hörte ich ein schmerzliches Wiehern und entdeckte eine dunkle Gestalt. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie ein Pferd ganz hinten im Stall zusammenbrach. Dieses Pferd war niemand anders als Saphir selbst...

Saphir- der weisse HengstWhere stories live. Discover now