Kapitel 8.1 - Schatten der Götter

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Vor dem Licht der untergehenden Sonne wirkte das Herrenhaus wie ein Phänomen, das im Zwielicht seinen kompletten Schein präsentierte.
Es mutete wahrhaft geisterhaft an. Ein großes schmuckvolles Gebäude, dessen Fassade gerade einmal genug Reichtum preisgab, um auf die Flure im Inneren zu schließen.
Feine Holztäfelungen, saubere Fliesen und kristallene Kronleuchter erhellten die Kammern... Und irgendwo dazwischen hatten sich zwei junge Erwachsene hineingeschlichen, die nicht dort sein sollten.

»Verflucht! Ich habe keine Ahnung, wie das Zeug aussehen soll!« Rhys' Gesicht wurde von Falten zerfurcht.
Holt mal die Pflanze, wiederholte er Dougals Worte in einem spottenden Tonfall. Die heißt Tarda und sieht aus wie ein ganz normaler Farn, nur mit orangen Blüten. Aus dem Zeug wird Tardacum gewonnen, also vielleicht liegt euch diese Suche mehr.

Aus den Ecken der Lagerkammer drang der Geruch von frischer Ware. Deftiger Käse und gute Äpfel... Alles was hier war fühlte sich sauber an, als könnte die Nahrung ihren Wert verlieren, wenn Nesta sie auch nur berührte. Die gewundenen Gänge und hohen Decken, das Essen, die Einrichtung, die Aufstellung der Wachen, jedes hellblaue Banner im Anwesen: alles hatte sein System und seine furchtbare Ordnung, als dürfe nichts herausfallen.

Sie waren daneben ein Bild der Armut. Ein streunendes Mädchen aus der dunkelsten Gasse Caims, das vom Unheil selbst großgezogen wurde. Die harten Züge auf ihrem Gesicht, die großen Poren ihrer Haut... Sie war nichts anderes, als ein wertloses Objekt in diesem großen Haus.

Das bisschen Tarda, was sie stehlen würden, wäre kein Verlust für sie. Es wäre nichts.
Nesta bezweifelte gar für einen Moment, dass es ihnen auffallen würde.

Die Kammer war etwas schlichter gehalten: Kräuterkronen, an denen feine Gewächse hingen, Knochen und Fleisch, das von der Decke herunterbaumelte...
Nesta verharrte, als eine Feststellung sie ereilte. Im gesamten Gebäude befanden sich Tierknochen. Ein merkwürdiges Symbol, dass Nesta stets als Glücksbringer abgetan hatte, doch nun warf der Anblick der Schädel und Gebeine sie gänzlich aus der Bahn. Selbst in einem der Herrenräume, die sie durchschritten hatten, hatte über dem Kamin ein prächtiges Geweih gehangen. Nichts Außergewöhnliches. Durchaus makaberer hatte sie allerdings gefunden, als Ketten von Hasenpfoten neben den Vorhängen heruntergehangen hatten. In jedem Raum konnte man die Überreste von Tieren finden.

Warum?

»Tarda...«, wiederholte sie den Gedanken laut für sich, um ihre Aufmerksamkeit auf das wesentliche zu lenken. Ob dieses Gewächs wirklich existierte? Allmählich fühlte es sich nur noch wie ein Witz an. Als wolle die Welt ihr einen Streich spielen.

Rhys schien wieder keine Fragen zu stellen. Von jeder Pflanze nahm er eine vom Regal und stopfte sie in seine Tasche hinein.

Tarda... Was sollte ein normaler Haushalt damit anfangen können? Normalerweise hatten sie bisher Verstecke von Händlern, die Kellergewölbe von mächtigen Magiern, oder Alchemisten aufgesucht... doch ein normales Herrenhaus? Welche Menschen mussten hier leben, damit Dougal von ihren Vorräten so viel Tardacum erhalten konnte, um sich selbst zu heilen? Und was hatte es mit diesen verdammten Knochen auf sich?

Nesta sog laut die Luft ein, als sie sich der Verbindung bewusst wurde, doch im selben Moment ertönte eine tiefe, grollende Stimme hinter ihnen.

»Was sucht ihr denn da?«

Nesta und Rhys tauschten Blicke aus. Der junge Mann ließ sofort die Tasche aus den Händen fallen und trat einen Schritt zurück, doch sein Starren blieb wachsam auf die Gestalt des Wachmannes in der hellblauen Robe gerichtet.

Der Wächter war ein Greis, dem Nesta niemals die Position eines Verteidigers zugesprochen hätte. Er strahlte keine schnittige Dominanz, sondern gewitzte Ruhe aus. Intelligenz. Er könnte einer der Alchemisten sein, die sie bereits häufiger angetroffen hatten.

Die Raben der GötterWhere stories live. Discover now