36

732 77 36
                                    

Beat

Lillian ist einfach unglaublich.

Da meine Prüfung in Wirtschaftsinformatik bevorsteht, drehe ich zurzeit etwas am Rad. Gestern habe ich mich vor lauter Stress beinahe über meinen Lernunterlagen übergeben. Mein Puls war ungesund hoch und ich konnte nicht aufhören, zu zittern. Es sind Momente wie diese, in denen all der Schmerz von Moms Tod auf einmal zu mir zurückkommt. In diesen Augenblicken spüre ich nur allzu deutlich, dass sie nicht mehr da ist und es tut verdammt weh. So weh, als hätte ich einen Schlag gegen den Solarplexus bekommen und keine Luft mehr in meinen Lungen.

Lillian schrieb mir und fragte mich, wie ich mit dem Lernen vorankäme. Ich versuchte sie, mit einer kurzen Nachricht abzuspeisen, um ihr keine Sorgen zu bereiten. Doch sie kam trotzdem vorbei, um mir Snacks zu bringen. Als sie mich dann sah, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Lillian nahm mich einfach nur in den Arm und hielt mich, bis meine Panik langsam abebbte. Sie beschwerte sich nicht über den beißenden Schweißgeruch, der von mir ausging, sondern strich mir einfach nur langsam über das Haar und murmelte irgendwelche beruhigenden Worte.

Ich fange wirklich an, sie zu mögen. Näher als durch einen tiefen Kuss sind wir uns zwar noch nicht gekommen, aber ich habe es auch nicht besonders eilig, unsere Beziehung in der Hinsicht zu überstürzen. Wenn ich sie ansehe, bekomme zwar kein Herzrasen, aber das finde ich ehrlich gesagt sehr entspannend. Ich bin weder nervös in ihrer Nähe, noch habe ich tausende Schmetterlinge im Bauch. Es ist mehr ein sanftes Glühen in der Magengegend. In ihrer Nähe fühle ich mich sicher. Vielleicht ist es noch viel zu früh dafür, aber in den letzten zwei Wochen sind wir uns wirklich sehr nahe gekommen.

Schließlich ist es soweit: Ich sitze im Vorlesungssaal und habe die Prüfungsunterlagen vor mir. Meine Hand ist so schwitzig, dass mir der Kugelschreiber immer wieder aus den Fingern rutscht. Als ich zweieinhalb Stunden später fertig werde und den Saal verlasse, bin ich dennoch zufrieden mit meiner Leistung. Ich weiß, dass ich sicherlich nicht im oberen Drittel abgeschnitten habe, aber ich habe ziemlich sicher bestanden. Das ist mir fürs Erste genug.

Da Lillian gerade selbst in einer Vorlesung sitzt, konnte sie nicht zu meinem College fahren und auf mich warten, weshalb ich mit niemandem gerechnet habe. Doch als ich plötzlich fast in Lane reinlaufe, macht mein Herz einen schmerzhaften Satz. Ich stolpere zurück und presse mir die Hand auf die Brust. Er hebt entschuldigend die Hände.

»Mist, ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Hast du nicht«, bringe ich schwer atmend hervor. Er hebt skeptisch eine Braue. »Das sieht aber anders aus.« Ich winke ab und lüge: »Nein, ich bin einfach nur fertig von der Prüfung und war in meinen eigenen Gedanken versunken.«

»Wie lief es eigentlich?«, will er wissen. Ich meide seinen Blick als ich antworte: »Ganz in Ordnung, denke ich. Vermutlich bestehe ich.«

»Wenigstens etwas.«

Aus irgendeinem Grund nervt mich seine Antwort, doch ich gehe nicht weiter darauf ein. Immerhin hat er extra hier auf mich gewartet und ich weiß, dass Lane manchmal Schwierigkeiten damit hat, sich auszudrücken und vieles aus seinem Mund trockener klingt, als es gemeint ist.

»Danke fürs Warten«, sage ich also und lächle kurz in seine Richtung. Länger ertrage ich es gerade nicht, Blickkontakt zu ihm zu halten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er nickt und sich dann hinter dem Ohr kratzt. Das tut er immer, wenn er nervös ist.

»Äh, gern. Aber eigentlich wollte ich dir noch etwas erzählen. Wollen wir ein Stück gehen?« Misstrauisch betrachte ich ihn von der Seite. Lane wirkt wirklich, als hätte er Angst, mir könnte es nicht gefallen, was er zu sagen hat. Plötzlich befürchte ich, dass er unser Arrangement auflösen könnte und ein scharfer Stich fährt durch mein Herz. Allein meine Reaktion bereitet mir schon genug Sorge, sodass das Hochgefühl von eben, die Prüfung absolviert zu haben, wie weggeblasen ist.

»Oh, in Ordnung«, murmle ich dann und wir verlassen das Gebäude.

Draußen angekommen schlagen wir den Fußweg durch die Allee ein, auf dem ich letztens Lillian beim Joggen begegnet bin und wir Nummern ausgetauscht haben. Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her, er die Hände in den Taschen vergraben, ich die Arme verschränkt. Schließlich durchbricht Lane die Stille durch ein vernehmliches Räuspern und sagt: »Ich habe jemanden kennengelernt.«

Ich strauchle und wäre beinahe hingefallen, wenn er mich nicht im letzten Moment am Arm gepackt hätte. Etwas energischer als nötig mache ich mich von ihm los. »Cool. Und um mir das mitzuteilen musstest du vor meinem Vorlesungssaal auf mich warten?« Ich klinge wesentlich genervter als ich es wollte. Aber die Erkenntnis, dass er nicht auf mich gewartet hat, um sich nach mir zu erkundigen, sondern um etwas loszuwerden, hat irgendwie einen schalen Beigeschmack. Und dass mir die Vorstellung von Lane mit einer anderen Frau Magenschmerzen bereitet, kommt noch hinzu.

Er blinzelt irritiert bei meiner heftigen Reaktion und stammelt: »E-es tut mir leid, ich wollte... ich dachte nur, dass... ach, egal. Ich verstehe nicht, warum das ein Problem ist. Ich dachte mir einfach, dass du nach der Prüfung einen freien Kopf hast und wollte dich nicht davor damit nerven.«

»Gut, aber musste es wirklich direkt nach der Prüfung sein? Versteh mich nicht falsch, ich weiß es zu schätzen, dass du mir Bescheid gibst, wenn du dich mit jemandem triffst. Aber es wirkt einfach sehr uncool und egoistisch auf mich, wenn du vor dem Saal auf mich wartest, weil du dir was von der Seele reden willst, anstatt mich fragen zu wollen, wie es mir geht und die Prüfung gelaufen ist.«

»Aber ich habe dich doch gefragt, wie die Prüfung war.«

»Ja, aber du bist nicht deswegen da gewesen!«

Er zuckt die Schultern. »Nein, aber spielt das eine Rolle?« Lane wirkt ehrlich verwirrt. Ironischerweise fiel es mir lange nicht mehr so schwer, jemandem nicht ins Gesicht zu schlagen – und dabei sollte gerade er mir helfen, diese Aggressionen in den Griff zu kriegen und sie nicht auslösen.

Ich schüttle den Kopf. »Weißt du was? Vergiss es einfach. Danke fürs Bescheid sagen.« Mit den Worten drehe ich mich um und gehe zurück. »Warum bist du so...?«

»So was?«, spucke ich aus und wende ich mich ihm wieder ruckartig zu. Ich muss wirklich eine sehr aggressive Energie ausstrahlen, denn Lane stolpert etwas zurück. Kurz blitzt ebenfalls Wut in seinen Augen auf, doch als er blinzelt, klärt sich sein Blick wieder. »Warum kümmert dich das so, Beat? Ich dachte, du hast jetzt Lillian und es ist okay, wenn ich–«

»Darum geht es doch gar nicht!«, rufe ich fassungslos. Er scheint wirklich nicht zu verstehen, warum ich mich so ärgere. Er runzelt verwirrt die Stirn. »Aber worum geht es dann?« Ich balle meine Hände zu Fäusten und atme tief durch. Es hat jetzt keinen Sinn, Lane anzuschreien oder einen schlimmen Streit mit ihm anzufangen. Vielleicht reagiere ich auch über. Allerdings sollte er trotzdem wissen, warum ich so enttäuscht bin. Deshalb versuche ich nochmal ihm das zu erklären.

»Es geht darum, dass ich wirklich gelitten habe in den letzten paar Wochen vor der Prüfung. Besonders in den Tagen davor. Ich dachte, dass dir das aufgefallen ist und du deshalb vor dem Saal auf mich gewartet hast. Zu erfahren, dass das allerdings nichts damit zu tun hat, sondern du nur unbedingt was loswerden wolltest, hat einfach wehgetan. Verstehst du mich?«

Lane nickt langsam mit dem Kopf. »Ich denke, schon. Es war nicht respektlos dir gegenüber gemeint. Aber ich habe mir ehrlich nichts dabei gedacht.« Genau das ist es ja, will ich schon sagen, halte mich jedoch zurück. Ich möchte nichts sagen, was ich später noch bereuen könnte. Deshalb nicke ich lediglich und sage so ruhig wie möglich: »Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast. Wir schreiben noch.«

Ein Teil von mir hofft, dass er mich zurückruft, als ich gehe. Doch das tut er nicht. Als ich in meinem Wohnheim ankomme, weine ich. Bevor es jedoch zu einem ausgewachsenen Heulkrampf ausarten kann, wische ich mir die Tränen von den Wangen und hole mein Strickzeug heraus...

BeatDonde viven las historias. Descúbrelo ahora