Nach satten dreieinhalb Monaten auch mal wieder Zeit für ein klitzekleines Kapitel, würde ich sagen. Ich werd mal keine lange Vorrede halten und einfach nur Spaß wünschen :p
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«Lass mich das noch einmal klarstellen...»
«Okay, gern.»
«Dieser Schrecken ist gegen Johanns Schiffsmast geflogen.»
«Jup.»
«Du hast festgestellt, dass seine Hinterbeine ungewöhnlich verkrümmt sind und er wahrscheinlich die Hilfe eines Experten braucht...»
«Korrekt.»
«Dafür bist du extra bis hier hoch auf den Vulkan gestiefelt?
«Richtig.»
«Und du dachtest wirklich, ich sei dafür der richtige Ansprechpartner?»
Astrid war verunsichert. «Bist du ein Drachenexperte oder nicht?»
Der Wächter fuhr sich mit der Hand über die Augenschlitze. «Nur weil man sich gut mit Menschen versteht, heißt das dann auch, dass man sie gut heilen kann?»
Die blonde Schildmaid erkannte ihren Fehler und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. «Tja, ähm... lustige Geschichte übrigens: Die vielleicht grummeligste Dame auf Berk ist die wahrscheinlich beste Heilerin weit und breit.»
Er seufzte. «Ist ja auch egal», meinte der Maskierte und winkte ab, während er den kleinen blauen Schrecken in seinem Arm wiegte, als sei er ein kleines Baby. «Jetzt, wo ihr schonmal hier seid... Na gut, dann komm mit.»
Als er einfach losging, schaute Astrid nur verdutzt drein. «Wohin genau?»
Er zog eine Augenbraue hinter seiner Maske hoch und nickte in Richtung seines Hauses, das mitten auf der Ebene stand. Dann ging er wortlos weiter darauf zu.
Astrid konnte ihr Glück kaum fassen. Sie kam unter Anderem aus dem Grund nach oben auf die Ebene des Wächters, damit sie mehr über das Zähmen von Drachen lernen konnte, um die Berserker kontaktieren zu können und sie und ihre Stammesmitglieder letztendlich von dort wegzubringen, und jetzt lud er sie förmlich in sein eigenes Haus ein.
Wenn sie genug Zeit hätte, sich darin unbemerkt umzusehen, dann ließen sich bestimmt so einige Geheimnisse enthüllen.
Der Wächter war längst durch die Tür getreten, als sie ihm schließlich über die hölzerne Schwelle folgte. Ihr schoss kurz der Gedanke durch den Kopf, wie verantwortungslos ein Holzhaus eigentlich neben einem Vulkan und auf einer Insel voller Drachen war, aber anscheinend hatten sie unten im Dorf der Vulkaninsel auch Strohdächer und schienen sich keine Sorgen darum zu machen, also zuckte sie einfach nur innerlich mit den Schultern.
Der Anblick von innen hingegen war etwas, das sie so schnell nicht vergessen würde. Das Innere war im Gegensatz zum Äußeren praktisch ausschließlich aus Stein, als wäre alles außen lediglich eine Fassade oder Dekoration. Es war größer, als es von draußen den Anschein hatte. Zwei Stockwerke, aber dafür in der Mitte eine große, offene Fläche, die nach oben hin bis zur Decke offen war.
Außerdem war in der Mitte noch einmal eine große angeschwärzte Steinplatte, die aussah, als wäre sie sehr oft erhitzt worden. Dass das Ohnezahns Schlafplatz war, konnte sie nicht wissen.
Abgesehen vom Eingangsbereich, über dem im zweiten Stock tatsächlich die Schlafstätte des Wächters lag, gab es noch drei weitere Flügel des Hauses. Im Abschnitt geradeaus war eine Schmiede mit Esse, Amboss, dutzenden an der Wand hängenden Werkzeugen und einer Ecke voller Rohmaterialien, Erze und sogar vollständige Metalllegierungen, die einfach nur da lagen. Darüber befand sich in der über eine Leiter erreichbaren zweiten Etage etwas, das an eine Waffenkammer erinnerte. Dort hingen verschiedene Kampfwerkzeuge, so zum Beispiel Schwerter und Äxte, aber auch eine kuriose Waffe mit Kette und Klinge, die Astrid noch nie gesehen hatte, und ein absoluter Blickfänger: Eine schwarze Rüstung, die aussah, als wäre sie aus den Schuppen eines Nachtschattens gemacht. Weitaus beeindruckender als der braun-schwarze Lederharnisch, den der Wächter aktuell trug.
Auf der rechten Seite des Hauses war ein Abschnitt, den man getrost eine Schreiber- und Zeichenstube nennen konnte. Dort waren lediglich ein Pult, Papier und sonst nichts mehr. Die von ihrem Blickwinkel aus nicht sichtbare Etage darüber hingegen hatte eine Wand voller auf Papier gekritzelter Skizzen und Zeichnungen und einen Tisch, der auch nicht unbedingt besser aufgeräumt aussah.
Und dann war da noch der linke Flügel des Hauses, in den der Wächter gerade ging. Regale voller Bücher und kleiner Gefäße, die sonst was für Dinge beinhalten konnten. Dazu ein paar Utensilien, die Astrid auch von Berk aus Gothis Heilerhütte kannte, mit denen man lindernde Salben und Heilpasten herstellen konnte, indem man Zutaten zermahlen und vermischen konnte. Auch dort war noch ein Tisch.
«Hier hat es sich jemand hübsch eingerichtet für einen Halbverbannten», resümierte die blonde Schildmaid.
«Halbverbannt würde ich nicht sagen. Eher ein Viertel... Na gut, ich bin mal großzügig. Ein Drittel.»
«Witzig», merkte sie trocken an und ließ ihren Blick noch einmal schweifen. «Ein Steinhaus, wie?»
«Naja...» Der Wächter schmunzelte kurz. «Auch Drachen haben mal einen schlechten Tag.»
«„Auch Drachen haben mal einen schlechten Tag"», äffte Astrid spöttisch nach. «Ich glaube, du hast ein paar lustig aussehende, bunte Pilze zu viel vernascht.»
Er lachte kurz und legte dann den wimmernden blauen Schrecken behutsam auf dem Tisch ab. «Wenn du dich nützlich machen möchtest, könntest du bitte in den oberen, rechten Schrank holen und dort das kleine, grüne Glasfläschchen rausholen?»
Etwas verdutzt und mit einem aufmerksamen Blick in seine Richtung folgte Astrid seiner Aufforderung. Sie sah ihm zu, wie er aus einer kleinen Schublade eine winzige Nadel holte, während sie kurz danach das gefragte Fläschchen in der Hand hielt. «Ist es das hier?»
Er nickte ihr zufrieden zu und nahm es dankend entgegen. «Sehr gut, genau das ist es.» Er zog den Korken und tunkte die Nadel kurz herein, bevor er Astrids fragenden Blick bemerkte. «Weißt du, was das hier ist?»
Kurz runzelte sie die Stirn, bevor sie mit dem Kopf schulterte. «Was weiß ich... Irgendeine Heilpaste?»
«Ha! Nein», rief er amüsiert. «Die kommt gleich noch, aber jetzt sorge ich erstmal dafür, dass uns dieser Winzling nicht ansengt, wenn ich ihm an der Wunde rumfummle.» Er gestikulierte mit der Nadel. «Das grüne Fläschchen beinhaltet ein Betäubungsmittel. Oder um noch ein wenig genauer zu sein: Ein Gift.»
Astrid zog befremdet eine Augenbraue hoch. «Du willst dem Drachen eine giftige Nadel reinjagen?»
Er lachte leise. «Wie so oft macht die Dosis erst das Gift. Es ist nichts tödliches, nur aus den Drüsen eines Schnellen Stachels.»
Kurz ratterte es in ihrem Kopf, bis sie sich an den entsprechenden Eintrag im berkianischen Buch der Drachen erinnerte. «Schnelle Stachel? Die flugunfähigen Rudeldrachen?»
«Ganz genau die. Nachtaktiv noch dazu und leider extrem territorial.»
«Leider?» Sie bemerkte, wie hinter diesen Worten eine Erinnerung steckte.
Er kratzte sich kurz am Hinterkopf. «Es gibt ein paar Drachenarten, die derart misstrauisch und chronisch feindselig sind, dass auch ich mich ihnen nicht besonders gut nähern kann und – bei aller Bescheidenheit – ich bin der beste Drachenzähmer auf dieser Insel.»
«Natürlich», sprach Astrid nur trocken.
«Das Gift eines Schnellen Stachels ist aber medizinisch äußerst wertvoll», fuhr er ungerührt fort, «und irgendwann hatten wir mal etwas knappe Vorräte an Betäubungsmitteln. Also musste jemand etwas beschaffen.»
«Die kurze Geschichte, bitte», erinnerte sie ihn irritiert mit einer kurzen Geste in Richtung des noch immer wimmernden kleinen Drachens, merkte aber, worauf die Geschichte letztendlich hinauslief.
«Oh, richtig... wir haben ja noch etwas zu tun», murmelte er nervös und räusperte sich. Dann ging er einmal um den Tisch herum und sprach: «Sieh mal», bevor er den Schrecken kurz unter seinem Kinn kraulte, an einer bestimmten Stelle kurz gezielt zudrückte und dann seine Hand wegzog, damit Astrid sehen konnte, wie der Kopf des kleinen Kerls mit heraushängender Zunge auf dem Tisch landete.
Astrids Mund blieb meilenweit offen. «Hast du ihn gerade-»
«Getötet? Jetzt komm schon, Astrid. Wirklich?»
Ihr Mund klappte wieder zu, aber ihre Augen blieben noch immer tellergroß, bevor sie mit einer Handbewegung in Richtung des Drachens wies, der... schnurrte? «Und was war das dann eben?»
Der Wächter grinste unter seiner Maske. «Willkommen bei „Wie lege ich einen Drachen um, ohne ihm den Schädel einzudreschen oder ihm irgendwelche Gliedmaßen mit scharfen Gegenständen zu stutzen?"»
Astrids einzige Reaktion blieb ein irritiertes Augenrollen.
Er räusperte sich. «An dem Titel muss ich noch arbeiten», murmelte er dann kurz, bevor er sich wieder direkt an Astrid wandte. «Um es ganz kurz zu fassen: Jeder Drache hat einen Schwachpunkt, übrigens ähnlich wie Menschen. Wenn du wüsstest, wie viele Druckpunkte wir haben, bei denen wir sofort umkippen würden...»
«Und ich nehme an, der „beste Drachenzähmer der Insel" hat all diese Schwachstellen im Kopf», merkte Astrid mehr oder weniger spöttisch an, obwohl es sie nicht besonders wundern würde.
«Tatsächlich nicht, dafür sind es einfach zu viele und davon habe ich nur einen Bruchteil entdeckt», entgegnete er lachend. «Aber zurück zum Thema: Betäubung.»
Er stach dem Schrecklichen Schrecken mit der Nadel kurz in eines der misshandelten Hinterbeine. Der Drache quietschte kurz und schickte einen kurzen Feuerstoß aus seinem Maul.
Und zwar in Richtung Astrid, die erschrocken reflexartig zur Seite auswich und dem Schuss hinterher sah, wie er in einem Bücherregal landete.
«Das nächste Mal vielleicht eine kleine War-» Astrid kam gar nicht dazu, ihren Satz zu vollenden, als der Wächter bereits fluchend an ihr vorbeistürzte, einen besonders großen, dicken und am Buchrücken in Brand gesteckten Wälzer herauszog, diesen auf den Boden warf und sofort die lederne Fläche seines fingerlosen Handschuhs direkt auf die brennende Stelle presste.
Nach einigen Sekunden nahm er seine Hand herunter und klopfte noch einige Male auf die glimmende Stelle, bevor er erleichtert aufseufzte. «Glück gehabt... Fast wäre es verbrannt.»
«Entschuldige mal?!», rief Astrid plötzlich entrüstet. «Fast wäre ICH angekokelt worden, du maskierter Soziopath!»
«Die Betonung liegt auf „fast"», entgegnete er und beäugte das Buch noch einmal kritisch, bevor er wieder in ihre Richtung sah. «Aber ich glaube, du unterschätzt den Wert dieses Buches. Das ist mein persönliches Buch der Drachen.»
Die blonde Schildmaid blinzelte kurz verwundert. «Dieser Wälzer...? Unseres auf Berk ist viel kleiner.»
«Da steht ja auch nicht wirklich viel drin. Wie ein Drache angreift, dass er extrem gefährlich und sofort zu töten ist.»
«Woher-»
«Hicks.»
«Oh, richtig...»
Der Wächter schmunzelte, legte das Buch auf den Tisch und winkte Astrid heran, während er eine Seite aufschlug. «Zum Beispiel der Schreckliche Schrecken. Drei Seiten feinste Miniaturschrift und eine Seite für Zeichnungen.»
«Größe, Flügelspannweite, Höchstgeschwindigkeit, durchschnittliche Lebenserwartung, Paarungsverhalten... Zähmbarkeit?» Astrid verzog eine Augenbraue. Sogar Schwachstellen konnte sie lesen, entschloss sich aber, diese nicht weiter anzusprechen, weil es sonst vielleicht eine Ecke zu auffällig wäre.
Ein Lachen kam von dem Maskierten. «Schrecken sind mit die einfachsten. Renn nicht laut schreiend auf sie zu und gib ihnen einen Fisch, dann hast du einen Freund für's Leben, der jedem verständlichen Befehl folgen wird.» Dann ging er wieder auf die andere Seite des Tischs und beugte sich über den Schrecken, der seit einer gefühlten Ewigkeit einfach nur da lag. «Aber zurück zur eigentlichen Aufgabe...»
Während er also die Wunde genauer inspizieren konnte, da der Schrecken teilweise gelähmt war und nicht bei jeder Berührung zusammenzuckte, konnte Astrid ein wenig weiter in dem Buch blättern. Dann sah sie wieder auf und legte den Kopf schief. «Also warum hast du Gift vom Schnellen Stachel benutzt?»
Der Wächter zuckte kurz mit den Schultern und nickte in Richtung des kleinen Drachens. «Der Effekt ist offensichtlich, oder nicht?»
Astrid schüttelte den Kopf, während er weiter an der Wunde herumdrückte und sich einen Überblick über die Verletzungen verschaffte. «Das habe ich nicht gemeint. Ich dachte immer, Schnelle Stachel betäuben ihre Opfer vollständig. So sehr, dass sie sich nicht mehr bewegen können.»
Während er sich zwischendurch leise murmelnd Notizen machte, drückte er einmal zu fest zu und der kleine Schrecken spie schon wieder einen kleinen Feuerstrahl, der zum Glück nicht einmal in Astrids Richtung ging, sondern nur gegen die steinerne Wand flog und keine bleibenden Schäden hinterließ.
Er seufzte, griff einmal hinter sich und öffnete ein Fass, das bis oben hin mit Fischen gefüllt war, nahm einen heraus und warf ihn Astrid zu, die den glitschige Meerestier reflexartig, wenn auch mit etwas Mühe, fing. «Lenk den kleinen Kerl mal ein wenig ab von dem, was ich hier mache. Sag's nicht Ohnezahn. Das ist sein Abendessen.»
Astrid nickte nur perplex und mit hochgezogener Augenbraue, bevor sie den Fisch in Richtung des kleinen Drachens reichte. Allerdings war er viel zu weit entfernt und der Schrecken schnappte nur ein paar Male vergeblich zu.
«Du musst ihn schon näher hinhalten. Komm schon, er wird nicht beißen... höchstwahrscheinlich», bemerkte der Wächter schmunzelnd.
Astrid legte den Fisch mit einem genervten Blick in Richtung des Maskierten einfach auf den Tisch und schob ihn langsam in die Richtung des verletzten Schreckens, bis er tatsächlich in Reichweite war und er an dem Meerestier in Ruhe herumkauen konnte. Dann warf sie dem Wächter wieder einen ärgerlichen Blick zu. «Also, was ist jetzt mit dem Gift vom Schnellen Stachel?»
Er nickte in Richtung des Buches. «Steht alles da drin. Nicht nur Fakten über Drachen, sondern auch über alles, was sie bereitstellen können. Ist alphabetisch geordnet. Der Schnelle Stachel sollte also weiter hinten zu finden sein.»
Wortlos blätterte Astrid wieder die wenigen Seiten zurück, die sie vorhin durchgegangen war und kam nicht weit entfernt vom Eintrag des Schreckens wieder beim Schnellen Stachel heraus. «Das Gift entstammt der Drüse eines Schnellen Stachels am Ende des Schwanzes und kann über einen Reflex freigesetzt werden», las sie laut vor. «Es reicht einfacher Hautkontakt zur äußerlichen Lähmung, doch tritt das Gift in eine offene Wunde ein, kommt es zur Lähmung der Muskulatur. Das Ausmaß der Lähmung hängt ab von-»
«Von der Dosis und der Position der Eintrittsstelle», vervollständigte der Wächter und warf ihr einen weiteren Fisch zu. «Hier, sorg mal dafür, dass der Kerl abgelenkt ist. Und ich meine wirklich abgelenkt, das wird ihm echt wehtun.»
Augenrollend fing sie den Fisch. «Wozu soll ich überhaupt lesen, wenn du es mir ohnehin auswendig aufsagen kannst wie ein Angeber?»
«Weil ich mich auf einen Patienten konzentrieren muss. Außerdem habe ich diese Stelle selbst verfasst. Das meiste daraus entstammt dem eigentlichen Buch der Drachen, das die Beschützer des Flügels verfasst haben, aber meine Version ist noch einmal zusätzlich ergänzt. Ach ja, Ablenkung bitte!»
Astrid seufzte und wollte dem Schrecken einfach wieder den Fisch zuschieben, als ihr der Wächter dazwischenfunkte.
«He, das wird ihn nicht gerade lange ablenken!»
«Was soll ich denn sonst machen?»
«Den Fisch in kleine Häppchen schneiden und die kleineren Stückchen verfüttern! Ich dachte, das sei klar.»
«Mit welchem Messer?»
«Du hast eins.»
Astrid wollte gerade den Mund aufmachen, als sie sich erinnerte, dass sie an der Hüfte noch immer Hicks' Messer trug, das der Wächter ihr gegeben hatte. «Oh, richtig», murmelte sie, zog das Messer und zerteilte murrend den Fisch, während ihr dabei von einem Menschen und einem kleinen Drachen aufmerksam dabei zugesehen wurde, was sie nur wieder dazu brachte, den Kopf zu schütteln.
Dann hielt sie ein Stückchen hoch. «So gut?», fragte sie gereizt und in einem Tonfall, der keine Kritik zuließ.
«Gut genug», sagte er in einem Tonfall, der einen Faustschlag ins Gesicht geradezu provozierte.
Leise vor sich hin knirschend wollte sie dem Drachen jetzt einfach diese Fischhäppchen zuschieben, als er sie schon wieder unterbrach.
«Was machst du denn?»
«WAS DENN JETZT SCHON WIEDER?!», explodierte sie und rammte frustriert das Messer in den Tisch. Der Schrecken quietschte erschrocken.
Für einen Moment war der Wächter perplex, bevor er schmunzelte und etwas ruhiger klarmachte, was er wollte: «Astrid, du sollst ihn füttern, nicht ihm das Futter einfach hinwerfen.»
Die Schildmaid blinzelte kurz, sah von den Fischstückchen zu dem erwartungsvollen Schrecken und wieder zurück. «Das fällt aus.»
«Wieso?»
«Was, wenn er mich beißt?»
Er lachte leise, ging zu ihr und nahm eins der Fischstückchen in die Hand. «Sieh her», sprach er leise. Er schloss demonstrativ die Faust um das Essen und hielt es dem Drachen direkt vor die Nase. Der kleine Schrecken schnupperte zwar leicht daran, bemerkte, dass irgendwie Fisch involviert war, aber in die Hand zu beißen war nicht die Lösung, das wusste er. Geduldig wartete er, bis die Faust geöffnet wurde und der leckere, rohe Fisch in Sicht kam, bevor er dem Wächter wie ein zahmes Lamm aus der Hand fraß.
Der Wächter grinste und zeigte Astrid seine Hand. «Siehst du?», sagte er. «Nicht gebissen.»
«Das zählt nicht!», protestierte Astrid vehement. «Du trägst einen Handschuh.»
«Einen fingerlosen Handschuh», korrigierte er.
«Na und?»
Er seufzte und zog den Handschuh ab. «Dann eben nochmal», sagte er und nahm demonstrativ ein weiteres Stück Fisch in die Faust. Wieder hielt er erst die geschlossene Faust hin, wartete auf den schnuppernden Drachen, der erneut nicht zubiss, und gab ihm zum Schluss wieder seine Belohnung.
Dieses Mal blieb Astrid stumm, sondern verschränkte nur die Arme.
«Und?»
«Ich mach's nicht», meinte sie trotzig.
«Wieso nicht?», entgegnete er schmunzelnd. «Hast du Angst vor einem kleinen Schrecken?»
Das schien sie aufzuweichen, aber sie blieb trotzdem stur. Zumindest ließ die Verschränkung ihrer Arme etwas locker. So locker, dass sie völlig unvorbereitet war, als er ihr einfach ein Stück Fisch in die Hand schob und mit seiner Hand ihre schloss.
Völlig perplex starrte sie ihn an, als er ihren Blick vollkommen ignorierte und stattdessen einfach ihre geschlossene Faust langsam in Richtung des Drachens führte. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich nicht einfach losreißen oder ihm noch zusätzlich eine reinhauen sollte.
Zu ihrer eigenen Überraschung tat sie nichts von beiden.
Dennoch wurde Astrid von einem gewissen Maß an Panik erfüllt, als sich ihre Hand immer weiter auf den hungrigen und verletzten Drachen zubewegte, der aufmerksam die beiden vereinten Hände anstarrte und bereits in der Luft herumschnüffelte. Zweifellos roch er bereits das Essen.
«Er spürt es, wenn du nervös bist», flüsterte der Wächter. «Bleib ganz ruhig.»
Ihr fiel auf, dass er seine Hand extra so über ihre gelegt hatte, dass er der erste wäre, der gebissen werden würde. Es war jedoch nicht unbedingt das, was sie ruhiger werden ließ, sondern eher die völlig unaufgeregte und entspannte Art des Wächters.
Bis jetzt dachte sie immer, das Füttern von Drachen auf dieser Insel würde in etwa dem gleichen, was sie auf Berk mit den eingesperrten Drachen taten; Sie warfen ihnen einfach das Futter hin und die Biester hatten sich dann selbst zu kümmern.
Der Wächter jedoch bot es völlig offen an, blieb angreifbar und überließ völlig dem Drachen die Entscheidung, ob er die Hand beißen sollte, die ihn fütterte, oder nicht.
Astrid war so in ihren Gedanken und ihrer Faszination versunken, dass sie es fast nicht mitbekam, wie der Maskierte langsam ihre Hand öffnete und noch langsamer den Kontakt mit ihrer Hand aufgab, sodass sie nun ganz allein dastand, wie sie einem Drachen ein Stück Fisch präsentierte.
Sie sog langsam die Luft ein, als sie den warmen Atem des kleinen Geschöpfs auf der Handfläche spürte. Vorsichtig nahm der Schrecken den neuartigen Geruch auf, als würde er sich mehr dafür als für den Fisch interessieren. Astrid zuckte kurz aufgrund eines Widerstandes zusammen, bis sie registrierte, dass es sich um glatte, trockene Schuppen handelte.
Paralysiert blieb sie stehen, bis der Schrecken sich dann doch entschloss, dass er von dem neuen Geruch nichts zu befürchten hatte und sich langsam an dem Fischstück zu schaffen machte. Sobald das geschafft war, zog die blonde Schildmaid die Hand schnell zurück und betrachtete den Drachen mit großen Augen.
Der Wächter, dessen Blick sie schließlich bemerkte, grinste sie unter seiner Maske unverhohlen an. «Was?»
«Nichts, gar nichts», meinte er nur unschuldig, während sich sein Grinsen langsam zu einem wohlwollenden Lächeln wandelte. «Gut gemacht», meinte er ehrlich und bewegte sich wieder an sein eigenes Ende des Tisches zu.
«Schon gut», brummte sie nur und rieb sich geistig abwesend über die Hand.
«Kannst du das weiter machen?», fragte er dann.
«Bitte?»
«Ob du ihn weiter füttern würdest. Seine Hinterbeine sind ausgerenkt und er hat wohl so lange daran rumgeknabbert, rumgekratzt und es nur schlimmer gemacht, dass er an beiden Beinen offene Wunden hat. Ich muss nur die Beine wieder einrenken und ihm eine Heilpaste draufgeben, die die Heilung beschleunigt. Aber dabei brauche ich Hilfe. Kann ich auf dich zählen?»
Astrid sah zwischen ihm und dem Schrecken ein wenig hin und her, während sie sich weiter über die Hand rieb. «Du willst, dass ich ihn weiter füttere?» Er nickte. «Also gut... wenn ich muss.»
«Du musst natürlich nicht», versicherte er schmunzelnd. Er wusste ganz genau, dass sie nur so abwehrend tat. Eigentlich würde sie kaum etwas lieber tun. Er hatte gesehen, wie sie den kleinen blauen Schrecken ansah. «Aber es wäre sehr hilfreich.»
Etwas zögerlich nahm sie das nächste Stückchen Fisch in die Hand und registrierte gleichzeitig, wie der Blick des Schreckens bereits an der nächsten Mahlzeit haftete. Ein wenig spielerisch zog Astrid mit ihrer Hand, in der das Futter war, kleine Kreise in der Luft und beobachtete amüsiert, wie der Blick des Drachens nicht ein einziges Mal davon abließ.
Letztendlich erbarmte sie sich dann doch seiner und hielt ihm das Stück Fisch vorsichtig vor die Nase, sodass er es behutsam aus ihrer Hand fressen konnte.
Einige Male sah der Wächter noch sanft lächelnd zu und bemerkte, wie auch Astrid zu lächeln anfing, als sie bald anfing mit dem Schrecken zu spielen. Er seufzte kaum hörbar und sah dann aber wieder ernst auf die Beine des Drachens herab.
Schließlich packte er eines und drückte probehalber graduell stärker werdend zu, um zu testen, ob das geflügelte Geschöpf dort wirklich kein Unbehagen spürte. Jedoch ließ sich keine Verhaltensänderung bemerken, also atmete er kurz tief durch.
Er packte beide Seiten desselben Beins. Dazwischen befand sich das ausgekugelte Gelenk. Er zählte innerlich bis drei, bevor er das Bein wieder kräftig in seinen Sockel hineindrehte und ein hörbares Knacken ertönte.
Der Drache schien es kaum zu bemerken. Als einzige Reaktion gab er ein kurzes Fiepen von sich, spuckte aber kein Feuer, sondern kaute nur weiter auf dem Fisch herum. Astrid dagegen sah fast schon besorgt zu ihn herüber. Der Wächter nickte ihr jedoch versichernd zu und wies sie mit Blicken an, den Schrecken weiter abzulenken.
Wenig später war dann auch das andere Hinterbein wieder am rechten Ort.
Astrid schien dieses Mal nichts zu bemerken. Oder vielleicht tat sie auch nur so, damit sie nicht fragen musste, ob sie aufhören sollte, den Drachen zu beschäftigen.
Der grinsende Maskierte beobachtete sie noch eine Weile, bevor er seinen Arm nach vorn streckte und den Schrecken wieder an derselben Stelle unter dem Kinn kniff, sodass dieser augenblicklich erschlaffte und die Augen schloss.
Fast ein wenig genervt starrte Astrid ihn an, während sie noch eines von fünf übrigen Stücken Fisch in der Hand hielt. «Wirklich jetzt?»
«Was denn?», fragte er unschuldig. «Wolltest du ihn etwa noch weiter füttern?»
Sie sah auf das Fischstück in ihrer Hand herab und legte es wieder zu den anderen, bevor sie die Arme demonstrativ verschränkte. «Natürlich nicht.»
«Natürlich nicht», wiederholte er heraushörbar grinsend und glaubte ihr kein Wort.
Sie winkte missbilligend ab. «Und was jetzt?»
«Jetzt...» Er streckte sich kurz, bevor er den Medizinschrank hinter sich öffnete und darin herumkramte. «Jetzt muss ich eine Salbe zubereiten, die seine Wunden heilt. Wo hab ich denn noch gleich den Nachtschattenspeichel hingelegt...?»
«Nachtschattenspeichel?» Sie zog angeekelt eine Augenbraue hoch.
«Jup, richtig gehört», entgegnete er grinsend, bevor sich sein Blick erhellte. «Ah, hier ist es ja. Ähm, steht übrigens alles im Buch der Drachen auf Seite 412.»
Astrid verdrehte die Augen. «Natürlich kennst du die Seitenzahl mit deinem eigenen Drachen», brummte sie und blätterte bis zur entsprechenden Stelle. Der Eintrag mit dem Nachtschattenspeichel machte kaum ein paar Zeilen aus, im starken Kontrast stehend zum restlichen Text über den Nachtschatten allein, der über etliche Seiten ging. ‹Wahrscheinlich hat er über seinen eigenen Drachen sogar noch die Positionen der einzelnen Schuppen aufgeschrieben›, mutmaßte sie spöttisch, aber stumm.
«Nachtschattenspeichel an sich hat einen lindernden und leicht schmerzbetäubenden Effekt. Mit ihm lassen sich die stärksten und effektivsten bekannten Heilsalben und medizinischen Tränke herstellen. Das und der Fakt, dass Nachtschatten sehr viel Speichel produzieren, machen diese Flüssigkeit zu einer der wertvollsten Substanzen, gleich auf einer Stufe mit Gronckel-Eisen.»
Astrid hatte gar nicht die Chance bekommen, aus der Stelle vorzulesen und warf dem verschmitzt aussehenden Wächter einen genervten Blick zu. «Damit, dass du diese Stelle in- und auswendig kannst, musstest du einfach angeben, oder?»
Er lachte kurz. «Ich kann noch mit viel mehr angeben, wenn du willst.» Dann stieß er ein kurzes „Aha!" aus. «Hab ich es doch endlich gefunden», rief er und hielt das kleine Fläschchen mit dem Nachtschattenspeichel hoch, das er kurz darauf ablegte und noch nach den anderen Zutaten suchte.
Es brachte ihm kaum mehr als ein Augenrollen der Schildmaid ein, während sich diese neben dem nahe positionierten Fenster anlehnte. «Mit noch mehr Wissen angeben, wie?», fragte sie mit hochgezogener Augenbraue, während sie das Buch intensiv anstarrte. Dann fiel ihr Blick auf das Fenster neben ihr und ein verräterischer Gedanke stieg ihr zu Kopf.
Dieses Buch und das darin enthaltene Wissen waren unglaublich wertvoll.
«Also gut», meinte sie schließlich und atmete kurz durch. «Was genau ist Gronckel-Eisen?» Sie schloss leise das Buch.
Er las derweil in einem anderen die Rezeptur für eine Heilpaste, während er die Zutaten mit Mörser und Stößel zu einem feinen Brei verrieb und gelegentlich einige Tropfen Nachtschattenspeichel hinzugab. «Das ganz objektiv betrachtet beste Metall für Waffen, das du weit und breit finden wirst», antwortete er nebenbei.
«Inwiefern?», fragte sie und griff mal mehr, mal weniger fest am Buchrücken zu, unentschlossen darüber, wann der Zeitpunkt gekommen war. «Was macht es so besonders?»
«Erst einmal ist es ein sehr stabiles Metall. Schwer zu schmelzen und noch schwerer zu formen. Mach dir ein Schwert daraus und die Klinge wird nur selten stumpf. Und wenn man ein ganz besonderer Kraftprotz ist...» Er machte eine kurze Pause, um etwas Festes mit einem hörbaren Knacken zu zerdrücken, «dann kann man mit einem solchen Schwert ein anderes zerschmettern oder zumindest stark beschädigen.»
Sie blinzelte überrascht. «Sind deine Waffen daraus gemacht? Ein so starkes Metall muss doch unverhältnismäßig schwerer sein...»
Der Wächter schmunzelte kurz. «Nicht nur meine Waffen, sondern die aller Beschützer des Flügels. Und was das Gewicht angeht, wärst du überrascht. Ich hab mal einen Schild daraus gemacht, weil Gronckel-Eisen eben besonders leicht ist.»
«Ein Schild aus Eisen?»
«Oh ja. Gronckel-Eisen ist leichter als manche Holzarten, ob du's glaubst oder nicht. Und der entscheidende Vorteil ist, dass er weder splittern noch brennen kann. Letzteres ist quasi Bedingung für die Arbeit mit Drachen, wenn wir mal ehrlich sind.»
«Ein Schild aus Eisen», wiederholte Astrid und runzelte die Stirn. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das lohnt. Waffen, okay. Aber Schilde? Du weißt schon, diese tragbaren Platten, die Angriffe abwehren sollen? Allein der Materialaufwand...»
«Und genau das hebt Gronckel-Eisen eben so sehr von gewöhnlichem Eisen ab», betonte der Wächter lachend. «Es ist sogar billiger herzustellen als Eisen. Es gibt nur einen einzigen Haken...»
«Lass mich raten», meinte Astrid und zog eine Augenbraue hoch. «Man braucht einen Gronckel.»
«Vollkommen richtig!» Die Heilpaste war inzwischen wirklich als Heilpaste erkennbar und fast als solche effektiv verwendbar. «Füttere ihm Sandstein, Granit und Eisenerz, kitzle ihn ein wenig am Bauch und er wird dir das beste Metall weit und breit wieder ausspucken. So einfach ist da-»
«Moment», fuhr ihm Astrid verunsichert dazwischen, während sich eine Spur Ekel in ihrem Gesicht abzeichnete. «Das Zeug ist eigentlich Gronckel-Kotze?»
«Sehr gut verwertbare Gronckel-Kotze», korrigierte der Wächter und beäugte kritisch die Heilpaste, bevor er einigermaßen zufrieden nickte. «Gar nicht mal schlecht, würde ich sagen...»
Mit konzentrierter Miene beugte er sich zu den Wunden des kleinen Drachens herunter und bepinselte diese vorsichtig. Astrid unterdessen wartete noch einen Moment ab, bevor sie sich langsam und immer mit einem Blick auf den Wächter nach hinten zum Fenster hinauslehnte und das Buch der Drachen dort vorsichtig und lautlos im Gras ablegte. Nach abgeschlossener Tat lehnte sie sich dann einfach wieder an die Wand neben dem Fenster und verschränkte die Arme, während sie weiter den Wächter beobachtete, der von all dem nicht bemerkt zu haben schien und voll in seine Arbeit vertieft war.
Nur wenig später war er dann aber auch schon wieder fertig und wickelte die Beine vorsichtig in Verbände ein. «Sehr schön», murmelte er leise und lobte seine verrichtete Arbeit.
Dann jedoch hob er den noch bewusstlosen Drachen an und ging damit auf Astrid zu, bevor er ihn ihr hinhielt. «W-was soll das denn jetzt werden?», fragte sie nervös und verblüfft zugleich.
Der Maskierte zuckte nur mit den Schultern. «Hier oben kann die Kleine nicht bleiben.»
«Warte... „die Kleine"?»
«Jap, ist ein Weibchen.»
Ihre Überraschung schüttelte sie kurz ab, nur um dann erneut verwirrt zu gucken. «Und warum kann er... sie nicht hier bleiben?»
«Scharfschuss ist sehr territorial und wird schnell eifersüchtig.» Auf ihren fragenden Blick hin erläuterte er: «Das ist mein eigener Schrecken, mit dem ich Post verschicke. Auch wenn ich aktuell keine Ahnung habe, wo er ist.» Er kratzte sich am Hinterkopf. «Ich habe mich schon gefragt, warum er hier keinen Aufstand über einen weiteren Schrecklichen Schrecken in „seinem Haus" gemacht hat...»
«Fällt dir den niemand anderes zum Babysitten ein?»
«Drachensitten», korrigierte er und erwischte Astrid dabei, wie sie ein kurzes „Klugscheißer" brummte. «Und doch, da fallen mir viele ein. Aber im Gegensatz zu ihnen hast du während deines Aufenthalts hier nichts Sinnvolles zu tun.»
Sie wollte schon entrüstet etwas darauf erwidern, bis ihr wieder einfiel, wozu sie überhaupt hier oben war. Sich weiterhin mit dem Wächter gutzustellen konnte ihnen eigentlich nur helfen. «Also gut», stimmte sie schließlich zähneknirschend zu.
«Sehr schön», meinte er erfreut und drückte ihr den Schrecklichen Schrecken nun in die Arme. «Achte nur darauf, dass nicht an den Verbänden – oder schlimmer noch, an den Wunden – herumgeknabbert wird. Und denke daran, sie ordentlich zu füttern. Schrecken sind kleine Gierschlunde.»
Astrid hörte ihm kaum zu, sondern versuchte stattdessen, so wenig Kontakt wie möglich mit dem kleinen Drachen zu haben.
«Und ab dafür. Ich hab auch noch zu tun», meinte er, klopfte ihr auf die Schulter und ging in Richtung seiner Schmiede.
Völlig ohne Worte – sie war ohnehin sprachlos – hielt sie den Drachen wieder auf einer Armlänge Abstand und verließ mit dem kleinen Geschöpf das Haus des Wächters. Nachdem die Tür hinter ihr zufiel, ging sie noch einmal zum linken Flügel des Hauses, wo das Buch im Gras lag. Sie legte einfach den Schrecken auf das Buch und hob dann das Buch mit dem Drachen darauf wieder an. So musste sie das Tier wenigstens nicht die ganze Zeit im Arm halten.
Außerdem war der Drache vielleicht die beste Tarnung für dieses Buch, nur für den Fall, dass es irgendjemand wiedererkennen sollte. Es sollte niemanden wundern, wenn eine Berkianerin einen Drachen nicht trägt wie... naja, wie praktisch jeder andere auf dieser Insel.
Sie atmete tief durch, konnte es noch immer nicht fassen, dass sie damit durchgekommen war, und machte sich dann auf den Weg nach unten zurück ins Dorf.
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Hicks saß am Zeichenpult, als die Tür knarzend geöffnet wurde und schwere Schritte das Haus erfüllten, bevor sich der Eingang wieder schloss. Es waren bekannte Schritte, die seinem besten Freund und treuem Begleiter Ohnezahn gehörten.
«Und?», fragte er, ohne zu ihm zu sehen, kaute kurz ein, zwei Male am Ende seines Stifts und vollendete einige weitere Linien. «Hat sie das Buch mitgenommen?»
Der Nachtschatten stieß ein leises, bejahendes Brummen aus und sein Reiter grinste.
«Sehr gut», murmelte er und legte den Stift ab, um die Zeichnung kritisch zu beäugen. «Vielleicht kann sie etwas daraus lernen. Aber weißt du, was mir nicht schmeckt, Kumpel?»
Sein Drache schnaufte kurz gleichgültig und machte sich lieber über ein Fass Fisch her.»
«Diese Verletzungen dieses Schreckens waren weder durch einen Unfall verursacht – und wenn, dann einen sehr... sagen wir mal unwahrscheinlichen – noch eine typische Verletzung einer Drachenkabbelei.» Er brummte nachdenklich. «Das gefällt mir nicht.»
Auch Ohnezahn schien ganz kurz darüber nachzudenken, bevor er seine Prioritäten wieder auf den Fisch festsetzte. Er mochte diese kleinen hyperaktiven Drachen eh nicht sonderlich.
Hicks schüttelte nur kurz schmunzelnd den Kopf über seinen Freund, bevor er den Gedanken an den Schrecken vorerst beiseiteschob und wieder nickend und grübelnd die Zeichnung betrachtete, auf der eine Axt eingezeichnet war. Sie ähnelte Astrids Waffe, die sie verloren hatte.
Er ging zur Schmiede und holte aus der Ecke hinter einem der Schränke die leicht rostige Axt hervor, die er kurz nach der Ankunft der Berkianer mit den Glutkesseln aus dem Meer gefischt hatte. Die Feuchtigkeit hatte dem Eisen nicht gutgetan. Und Verbesserungen täten ihr so oder so ganz gut.
Der Plan war die Herstellung eines Replikats aus Gronckel-Eisen. Mit einer kleinen Prise Hicks. Es fehlte nur die Hitze für dieses spezielle Metall...
«Hast du mal Feuer, Kumpel?»
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Mittlerweile dämmerte es schon wieder.
Die Berkianer hatten im Verlaufe des Tages eine feste Unterkunft zugewiesen bekommen. Die erste Übernachtung hatten sie immerhin in der Heilerhütte verbracht und die zweite unter freiem Himmel auf dem Plateau des Wächters.
Vor ihrer temporären Bleibe, in der wirklich nur ein paar Betten und ein Tisch mitsamt einigen Stühle standen, war stets eine Wache postiert, die dafür sorgte, dass die von Drachen praktisch umgebenen Berkianer nicht mitten in der Nacht auf dumme Gedanken kamen.
Das war für sie alle kein erfolgreicher Tag.
Haudrauf hatte nichts aus der Königin herausbekommen, Rotzbacke war bei der Ausführung seiner Aufgabe zum Sammeln von Informationen irgendwann langweilig geworden und er hatte irgendwann einfach angefangen, mit einigen der Beschützerinnen zu flirten, wovon eine Beschützerin einfach nur ein etwas schmächtigerer Beschützer war, den er nicht rechtzeitig als solchen identifiziert hatte, Fischbein regte sich entweder über die Strukturlosigkeit der Gesetzesaufzeichnungen auf oder saß still grübelnd in der Ecke und die Zwillinge...
Naja, die Zwillinge waren eben die Zwillinge.
Nur Astrid fehl-
Klopf klopf!
Taffnuss rannte sofort zur Tür und spähte durch das Schlüsselloch. «Wer ist da?», rief er unnötig laut.
«Astrid», kam die geduldige Antwort.
«Astrid wer?», kam eine weitere dümmliche Frage.
«Astrid, die dir gleich den Arsch versohlt, wenn du nicht aufmachst, denn sie hat gerade die Hände voll!»
Bevor Taffnuss noch irgendetwas von sich geben konnte und bereits die anderen Anwesenden nur die Augen verdrehten, öffnete der draußen postierte Beschützer einfach nur die Tür und ließ Astrid seufzend herein.
Haudrauf hatte bereits eine Hand im Gesicht und kniff sich ins Nasenbein. «Bitte sag mir, dass wenigstens du irgendetwas Positives zu vermelden hast...» Dann sah er auf und was folgte, waren erst Verwirrung, gefolgt von Zweifeln an der eigenen Sehfähigkeit und schließlich Ablehnung. «Was um alles in der Welt-»
«Eine gute und eine schlechte Nachricht», meinte Astrid, während alle Anwesenden nur den Schrecklichen Schrecken anstarrten, den sie auf irgendetwas transportierte und der sie alle aus großen Echsenaugen ansah. «Die Schlechte: Wir haben eine Mitbewohnerin.»
«Abgefahren!», riefen die Zwillinge gleichzeitig.
«Das meinst du nicht ernst, oder?», kam es aus Rotzbacke.
«Auf gar keinen Fall», grollte Haudrauf, dessen Miene sich verzog.
Der Schrecken fauchte kurz und knurrte dann zurück. Ihre Pupillen verengten sich, doch dann kniff Astrid dem kleinen Drachen kurz unter den Kiefer und sie klappte schnurrend zusammen.
«Und das ist die gute Nachricht», präsentierte Astrid grinsend.
«Heiliger Thor...» Selbst Haudrauf war auf einmal erstaunt. «Wie?»
«Dieser Drache ist heute verletzt angekommen und ich habe sie zum Wächter gebracht. Er hat sie verarztet und mir ein paar Sachen beigebracht, allerdings darf ich jetzt dafür Drachensitter spielen.»
«Ist nicht der schlechteste Austausch», gab Haudrauf zu und neigte kurz den Kopf zur Seite. «Und betrachtet man, dass du anscheinend die Einzige bist, die wirklich was auf die Beine gestellt hat, dann kann ich mich wohl nicht beschweren.»
«Wie?» Astrid zog die Augenbrauen zusammen und ihr Blick richtete sich auf den dicklichen, blonden Wikinger. «Niemand? Nicht einmal du, Fischbein?»
Dieser schien kaum mitzubekommen, dass er angesprochen wurde, und als er es realisierte, murmelte er nur unhörbar leise irgendetwas vor sich hin und schüttelte den Kopf.
«Was ist denn mit ihm los?», fragte die Schildmaid verwirrt und sowohl Haudrauf als auch Rotzbacke konnten nur mit den Schultern zucken.
Die Zwillinge jedoch antworteten. «Oh, wir wissen es natürlich genau», sagten sie, beugten sich beide vor Fischbein und starrten ihm tief in die Augen, was er gekonnt zu ignorieren schien. «Das ist der Blick eines Mannes, der die Wahrheit kennt und sie verleugnet.»
«Sagt mir nicht, die beiden faseln schon wieder davon, dass der Wächter eigentlich Hicks ist», bat Rotzbacke seufzend.
Fischbein konnte sich lediglich dazu durchringen, abzuwinken, den Kopf zu schütteln und dann weiter vor sich hinzugrübeln.
Astrid blinzelte verwundert, bevor ihr wieder einfiel, was sie eigentlich noch sagen wollte. «Ach ja, eine weitere gute Nachricht habe ich noch.» Und schon hatte sie wieder alle Blicke auf sich, während sie den Schrecklichen Schrecken auf dem Tisch ablud und dann das Buch vorzeigte, das sie die ganze Zeit mit sich herumgeschleppt hatte. «Das persönliche Buch der Drachen vom Wächter.»
Fischbeins Blick hob sich wieder und sogar Haudrauf war positiv erstaunt. «Es ist... viel dicker als unseres auf Berk», stellte er beeindruckt fest.
Die blonde Schildmaid grinste schelmisch. «Ich hoffe, ihm fällt nicht zu schnell auf, dass es fehlt.« Sie ignorierte die geschockten Blicke aller Anwesenden. Abgesehen von den Zwillingen. Die schienen nur noch begeisterter. «Denn solange wir es haben, können wir eine ganze Menge daraus lernen.»
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Es war bereits Nacht und die Wege zwischen den Häusern des Dorfes waren wie leergefegt. Nur eine einzige Gestalt schritt noch durch die Gassen in Richtung Hafen. Sein Markenzeichen waren das rubinbesetzte Schwert und zwei stachelige Schulterschützer.
Oh, und vielleicht auch der Skrill, der ihm leichten Schrittes wie ein Schatten folgte.
«Nochmal ein wenig Licht, Großer», flüsterte er und der Skrill erhellte kurz den Bereich vor ihnen, indem er das Maul aufmachte und darin kleine Blitze zucken ließ. «Danke.»
Er musste völlig verrückt geworden sein, dachte er sich. Mitten in der Nacht durch das eigene Dorf zu schleichen, während Frau und Sohn längst schliefen. Aber auf dieser Insel geschahen einfach zu viele seltsame Dinge. Erst strandeten die Berkianer, deren Schiff vom Sturm vollkommen zerlegt wurde, dann erschien Johann gerade mal mit einem zerfetzten Segel, obwohl er höchstwahrscheinlich denselben Sturm durchlitten und angeblich Felsen gerammt hatte. Und die Berkianer hatten sogar die besseren Chancen, weil sie eben eine komplette Mannschaft waren.
Und dann verschwanden auf einmal dutzende Schrecken am selben Tag, während die Berkianerin Astrid einen verletzten bei Johanns Schiff auflas. Wenn er richtig gehört hatte, wies dieser Drache Verletzungen ausschließlich an beiden Hinterbeinen auf und war gegen den Schiffsmast geflogen.
Zu viele Irregularitäten in zu kurzer Zeit.
Und für den Fall, dass hier tatsächlich irgendetwas lief, das nicht laufen sollte, musste er Heimlichkeit wahren. Und sollte ihn jemand sehen, musste er den Anschein erwecken, auf einem einfachen Nachtspaziergang zu sein. Deshalb ritt er auch nicht auf seinem Drachen.
Es mochte vielleicht paranoid erscheinen, aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass man im Zweifelsfall nur Misstrauen säte, wenn man mit seinem Verdacht falsch lag, und dass es nur unnötig Panik schürte, wenn man Recht behielt. Manchmal war es einfach besser, Informationen vorzuenthalten, bis man die ganze Wahrheit kannte. Selbst bei den eigenen Verbündeten.
Sein schuppiger Begleiter knurrte kurz und Viggo blieb wie auf Kommando stehen. Das Meeresrauschen war laut und ein weiterer Schritt nach vorn verriet ihm, dass sie bei den Docks angekommen waren.
Er machte langsame Schritte nach vorn und der Skrill, dessen Augen und Nase seinen menschlichen Sinnen überlegen waren, leitete ihn mit seinem Schwanz an, in welcher Richtung ihr gemeinsames Ziel lag.
Dann veränderte sich das Holz unter ihm. Es ging schräg nach oben. Eine Planke. Und schließlich ein vorsichtiger Schritt nach unten.
Kurz erhellte der Skrill wieder die Gegend.
Sie waren auf Johanns Schiff, aber das war es nicht, was Viggo so überraschte.
«Sieh mal einer an», murmelte er leise. «Hier sind sie also alle.»
Überall an Deck lagen Schreckliche Schrecken. Und sie alle schliefen. Sie waren eben tagaktive Drachen.
Die Frage war nur, warum sie alle auf diesem Schiff waren...
Ein unguter Verdacht beschlich Viggo. Er testete seine Theorie, indem er sich zu einem der herumliegenden Drachen hinunterbeugte und diesen leicht wachkniff. Dieser blinzelte kurz, gähnte, rutschte dann noch näher an den Schiffsmast und leckte diesen schnurrend ab.
Der ehemalige Drachenjäger wusste um die Tricks seiner ehemaligen Mitarbeiter. Das Sekret, das nur Schreckliche Schrecken wahrnehmen konnten. Auf dieselbe Art hatte er auch Hicks bis zur Vulkaninsel verfolgt.
«Jemand hat uns gefunden», brummte Viggo und sein Skrill knurrte unzufrieden.
Jedoch konnte er nicht viel mit dieser Information anfangen. Offensichtlich war, dass irgendwer Johann hergeschickt hatte. Aber wie, mit welchem Ziel und vor allem wer, das war nicht klar.
Und Viggo konnte sich noch nicht einmal sicher sein, welche Rolle Johann dabei genau spielte.
War er der Strippenzieher oder nur der unglückliche Köder?
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Ich brauche eindeutig zu lange für diese Kapitel.
Kann doch nicht sein, dass ich viermal so lange brauche (wenn ich mich beeile), verglichen mit früher (wenn ich mal langsam war). Und ja, die Qualität ist definitiv im Vergleich zu damals gestiegen und ja, ich schreibe noch parallel eine zweite Geschichte, aber das kann ja nun echt nicht die ganze Wahrheit sein :D
Naja, ich philosophiere dann mal weiter über meine langen Uploadzeiten und vergesse dann für sechs bis acht Wochen, dass man ja auch mal schreiben und nicht nur über das Schreiben nachdenken könnte.
Bis dahin also :p
LG Haldinaste ;)

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Der Wächter des Flügels
FanfictionHicks wurde für tot erklärt, nachdem er während eines Drachenangriffs von einem Nachtschatten verschleppt wurde. Jahre später taucht derselbe Drache wieder auf - mit einem Reiter. Nur weiß niemand, dass es sich bei ihm um Hicks handelt, der sich den...