26.

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Die Fahrt nach Berlin zog sich mal wieder und wir standen mehrere Male wegen Baustellen im Stau. Erst am späten Nachmittag kamen wir bei Raf an, obwohl wir früh losgefahren waren und Martens rasanter Fahrstil einiges an Zeit aufgeholt hatte.

„Da seid ihr ja endlich.", begrüßte uns Raf ungeduldig, als wir das Auto in der Tiefgarage abgestellt hatten.

Mit John und Marten schlug er brüderlich ein, mich nahm er kurz in den Arm.

„Hab die Zeit genutzt und ein paar Texte geschrieben.", verkündete John und hielt Raf sein iPhone unter die Nase.

Ohne auf Marten oder mich zu warten, liefen die beiden Männer los, vertieft in ein Gespräch über ihr geplantes Album.

„Kein Ding. Marten und ich tragen unser Zeug auch alleine hoch.", rief ich ihnen weniger ernst gemeint hinterher, bekam jedoch keine Reaktion.

„Las mal. Johnny kann seinen Kram später alleine holen. Ich nehm das schon, gib her."

Marten nahm mir meine Tasche aus der Hand und wuchtete sie über seine Schulter.

Gemeinsam liefen wir zu den Aufzügen, an denen von Raf und meinem Bruder nichts mehr zu sehen war.

„Kann denen wohl nicht schnell genug gehen, endlich ins Studio zu kommen."

Erst in Rafs Wohnung war den beiden aufgefallen, dass sie uns einfach am Auto stehen gelassen hatten. Raf entschuldigte sich direkt mehrfach, was ich jedoch lächelnd abwinkte. War ja eher witzig, wie versunken die beiden in ihre Ideen waren.


Keine halbe Stunde später saßen wir im Studio. Marten hatten seinen Plan umgesetzt und war direkt weiter zu seinen Leuten gefahren. John und Raf starrten konzentriert auf die riesigen Bildschirme der Rechner, während ich mich mit meinen Büchern komplett auf der Ledercouch und auf dem dazugehörigen Tisch ausgebreitet hatte. Ich wusste noch nicht ganz, wo ich anfangen sollte, aber so wie ich die beiden Männer einschätzte, würden wir die nächsten Stunden noch hier verbringen.


„Du hast das echt ernst gemeint mit den ganzen Büchern?", unterbrach mein Bruder meinen Denkprozess und schmiss sich neben mich auf die Couch.

Raf verließ gerade telefonierend den Raum, was wohl zur ungewollten Arbeitspause der beiden geführt hatte.

Ich klebte ein Post-it an die Stelle, an der ich gerade las und legte das Buch zu den anderen auf den Tisch. Ich hatte kaum mitbekommen, wie schnell die Zeit vergangen war.

„Ja, schon. Jetzt hab ich wenigsten mal die Zeit dafür, das alles in meiner Freizeit zu lesen."

John schnappte sich eines der Bücher und überflog die Überschrift.

„ADHS?"

„Mhm, hab ich viel mit zu tun. Ich lese mich aber eher in die verschiedenen Medikationen ein. Hatte ich schon genug Theorie dazu in der Uni, aber in der Praxis ist das doch noch mal was anderes. Jeder Fall ist irgendwie unterschiedlich. Gerade haben wir einen relativ schweren Fall in unserer Gruppe."

„Ich hab auch ADHS.", teilte mir John mit und nahm sich eins der anderen Bücher.

„Echt? Also richtig diagnostiziert?"

„Ja, halt als Kind. Aber hab nicht lange Tabletten genommen. War mir zu blöd, so ruhig gestellt zu werden."

Interessiert wand ich mich ihm zu. Das erklärte immerhin seine innere Unruhe und seine Rastlosigkeit. Während Raf konzentriert und still am Arbeiten war, musste John sich ständig mit anderen Kleinigkeiten beschäftigen und konnte nur für kurze Zeit komplett ruhig an seinem Platz sitzen. Er konnte echt ewig an seiner Musik arbeiten, war nebenbei jedoch immer mit anderen Sachen beschäftigt, musste ständig in Bewegung sein. Mal wieder machte dieses Beispiel mir deutlich, wie unterschiedlich Raf und mein Bruder eigentlich waren.

„Jetzt wärs aber eigentlich ganz geil, wieder so Ritalin und so zu bekommen.", grinste John mich an und legte die Bücher weg.

„Ich sehe das mit den Medikamenten auch eher kritisch, aber es fehlen überall die Schulen und Fachkräfte, die solche Kinder halten können. Dann fallen die aus dem System und keiner weiß so richtig, mit ihnen umzugehen."

„Hatte wohl einen Grund, warum ich überall rausgeflogen bin."

John lehnte sich zurück und nahm seine Kappe vom Kopf. Müde fuhr er sich durch die Haare und schmiss die Kappe zu meinen Büchern auf den Tisch.

„Aber mal ganz anderes Thema. Was bestellen wir zu essen? Ich hab Hunger und du hast heute auch noch nicht viel gegessen."

„Hm, keine Ahnung. Vielleicht hat Raf eine Idee und kennt was Gutes in der Nähe."

John schloss die Augen und rutschte tiefer in die Polster.

„Mhm, der soll mal entscheiden."


Bis Raf zurück in den Raum kam war mein Bruder neben mir im Sitzen eingepennt. Die ganzen Autofahrten steckten auch mir in den Knochen, aber noch fühlte ich mich einigermaßen fit. Ich hatte meine ganzen Bücher in der Zeit ordentlich sortiert und scrollte gerade durch die Nachrichten auf meinem iPhone.

„Was ist denn mit dem passiert?", nickte Raf in Johns Richtung und setzte sich zurück auf einen der Drehstühle, die an den Rechnern standen.

„Eben wollte er noch was zu essen bestellen und dann schläft er einfach ein.", antwortete ich schulterzuckend und stupste meinen Bruder von der Seite mit dem Ellenbogen an.

Müde öffnete John die Augen, setzte sich jedoch nach wenigen Augenblicken aufrechter hin und begann vor sich hin zu murmeln.

„Ich hab noch eine Idee wegen der einen Hook.", verkündete er, nachdem ich ihn einige Sekunden verwirrt und fast schon besorgt gemustert hatte.

„Lass die noch schnell aufnehmen und dann wegen Essen überlegen."

Schon stand er auf und ging, ohne zu zögern, in den Aufnahmebereich. Raf zog die Augenbrauen hoch und wandte sich wieder den Bildschirmen zu.


Letztendlich bestellte Raf Unmengen an asiatischem Essen für uns. Mein ersten Gedanke, als ich die ganzen verschiedenen Verpackungen sah, war, dass wir davon locker noch am nächsten Tag satt werden könnten. Ich hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass Abudi spontan vorbei kommen würde und er und John förmlich über das Essen herfallen würden. Entgeistert beobachtete ich, wie die beiden unfassbare Mengen in sich reinschaufelten.

„Als hättet ihr seit Tagen nichts zu essen bekommen.", kommentierte ich das Geschehen vor mir.

Raf hatte ebenfalls viel gegessen, aber gegen John und Abudi war seine Portion echt nichts.

„Wir sind doppelt so groß und doppelt so breit wie du, da braucht der Körper halt mehr.", stellte Abudi klar und schob sich die letzte Frühlingsrolle in den Mund.

„Übertreib mal nicht.", setzte ich zur Verteidigung an, wurde jedoch von meinem Bruder unterbrochen.

„Und Raf ist kein Maßstab, was das angeht. Der lebt viel zu gesund, wenn du mich fragst. Und macht viel zu viel Sport, der alte Angeber."

Raf schüttelte grinsend den Kopf und murmelte eine nicht ernst gemeinte Beleidigung in Johns Richtung.

„Wie ein altes Ehepaar.", kommentierte Abudi und warf mir einen der Glückskekse zu, die wir zum Essen geschenkt bekommen hatten.

Hey Brother (Bonez MC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt