Detective Haru und ein Kopfhörer-Diebstahl

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Das erste, was ich nach meinem Gespräch mit Dreckstück tat, war meine Mutter anzurufen. Beim zweiten Klingeln nahm sie ab.
„Bo? Mein Gott, endlich meldest du dich!", japste sie in dem Tonfall, den sie immer an den Tag legte, wenn sie sich sorgte.
„Entschuldige, Mama", murmelte ich. Mein schlechtes Gewissen war ohnehin schon groß. Aber ich hatte Angst davor, mit ihr zu sprechen. Weil ich dann erklären musste, warum ich sie so lange nicht besucht hatte.
„Ist alles in Ordnung, mein Schatz?" Ihre Stimme zitterte. „Isst du auch genug? Hast du Ärger mit deinen Klassenkameraden?"
„Ich bin in der Uni, Mama. Das heißt Kommilitonen."
„Meine ich ja", hauchte sie. „Warum meldest du dich nicht und nimmst nie ab? Du rufst auch nie zurück", sprudelte es aus ihr raus.
„Es tut mir leid. Ich muss viel lernen", wand ich mich. Zumindest war es theoretisch nicht gelogen. „Mama. Wenn möglich, werde ich euch besuchen kommen. Wie geht es Yuzei? Ist alles in Ordnung bei euch? Irgendwas Komisches vorgefallen in letzter Zeit?"
„Du kommst uns besuchen?" Ihre Stimme hellte auf. „Wann denn?"
„Das kommt drauf an. Also, ist irgendwas vorgefallen?", wiederholte ich. Warum ignorierte sie ständig meine Fragen?
Sie zögerte. „Nein nichts. Es ist alles wie immer. Nur Yuzei ... es geht ihm nicht so gut. Aber das wird schon wieder, mach dir keine Sorgen."
Ich biss mir auf die Lippe. Also hatte Dreckstück Recht gehabt. Wenn sich sein Zustand verschlechtert hatte, dann hingen wieder mehr Schatten an ihm. Dreckstück?, rief ich meinen Begleiter.
Ja. Ich habe alles gehört, meldete er sich. Wir sollten uns beeilen. Ich muss die Schatten, die deine Familie beschützen sollen, auf die entsprechenden Personen prägen. Wir müssen sie also so schnell wie möglich sehen.
Ich atmete tief ein. „Mama? Kannst du einen Besuchstag für Yuzei beantragen?"
„Du willst uns also wirklich..." Sie brach ab. „Natürlich kann ich das beantragen! Wann willst du kommen?"
„So schnell wie möglich. Ruf mich an, wenn du einen Termin hast. Dieses Mal werde ich abnehmen."
Meine Mutter gab einen erstickten Freudenlaut von sich. „Natürlich, ich werde alles in die Wege leiten. Willst du etwas Bestimmtes essen? Ah! Ich mache Suppe! Ich muss einkaufen! Ich ..."
„Mama?", unterbrach ich ihren Redeschwall und sie verstummte. „Ich bin froh, dass wir telefoniert haben. Ich hab dich lieb."
Überrascht über die plötzliche Wendung des Gesprächs hauchte sie: „Ja, ich habe dich auch lieb, mein Schatz. Das weißt du doch."
„Klar." Ich lächelte, aber spürte einen kleinen Stich in der Brust. „Ich leg jetzt auf ja? Sag mir Bescheid, wenn du mehr weißt."
Wir verabschiedeten uns und ich ließ das Handy sinken.

„Alles in Ordnung hier?", erklang Harus Stimme hinter mir. Wie ein Kind, das beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt wurde, wirbelte ich herum.
Er lehnte im Türrahmen und schaute mich abwartend an.
„Äh ja. Alles bestens", versuchte ich ihn abzuwimmeln.
Doch er runzelte die Stirn und machte einen Schritt auf mich zu. „Irgendwas ist komisch", bemerkte er und sah sich mit verschränkten Armen im Raum um, nur damit sein Blick am Ende wieder zurück zu mir fand.
Bisher hatte ich mich über seine ungewöhnlich schönen Augen, seine Bauchmuskeln und den Stock in seinem Arsch hinaus nicht allzu viele Gedanken um ihn gemacht. Aber als er mich so intensiv musterte, schluckte ich. Dieser Ausdruck in seinen Augen ... er wirkte so fokussiert. Ähnlich wie die Male, als er versucht hatte, mich zu kidnappen oder als er den Schatten vor meinen Augen getötet hatte. Dank diverser Bemerkungen, die eher nebenbei gefallen waren, hatte ich zumindest eine Ahnung davon, dass er stark war. Er durfte also auf keinen Fall herausfinden, dass Dreckstück noch in mir war.
Womöglich war er sogar stärker als Imara? Nein, sie war die Chefin dieses kleinen Trupps. Also war sie auch die Gefährlichste von ihnen, oder nicht?
Dreckstück?, fragte ich gedanklich, während Haru auf mich zukam, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Doch der Schatten hatte sich verpisst. Trotzdem hatte Haru etwas gemerkt.
Ich erwartete, dass er wie sonst auch gebührend Abstand wahrte, doch mein Gegenüber trat so nah an mich heran, dass es fast unangenehm war. Sein Gesicht war so dicht vor meinem, hätte ich das Kinn nur minimal nach vorne gereckt, dann ...
Mein Herz flatterte für einen winzigen Moment.
Dann verdunkelten sich die sonst sonnenhellen Augen meines Gegenübers. Mit größerem Abstand hätte ich es nicht bemerkt, doch jetzt, wo er so dicht vor mir stand, war ich mir sicher. Und damit veränderte sich auch die Atmosphäre im Raum. Ein bedrückendes, schweres Gefühl legte sich über uns. Als würde man sich tief unter Wasser befinden. Was zur Hölle war das? Eine von Harus magischen Lux-Techniken? Unverwandt musterte er mich, während er wie bei einer Bestandsaufnahme feststellte: „Der Schatten, der in dir war. Als du deine Kräfte erweckt hast, hätte er deinen Körper verlassen müssen. Aber ich hab ihn nirgendwo gesehen."
Okay, Detective Haru kann wohl Gedanken lesen. Ich schluckte, was sich bei der dicken Luft im Raum anfühlte, als würde ich einen trockenen Krummen Brot hinunterwürgen. Doch dann sammelte ich mich. „Kannst du mal aufhören, dich so unheimlich zu benehmen?", zischte ich. „Keine Ahnung, warum du den nicht bemerkt hast!" Mir schoss eine Idee durch den Kopf und ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, was Haru mit erhobenen Augenbrauen quittierte. War er überrascht? „Vielleicht hast du deine Pflicht nicht richtig erfüllt und nicht vernünftig auf mich aufgepasst", stichelte ich und erwiderte seinen Blick herausfordernd.
„Interessant", stellte er fest. „Dir scheinen einige meiner Fähigkeiten nichts anhaben zu können. Oder ... du sagst die Wahrheit." Seine Mundwinkel zuckten, doch die Dunkelheit in seinen Augen verschwand nicht.
Aus irgendeinem Grund war das deutlich heißer als der nette, kontrollierte Prinz von und zu Lichtgeboren. Ach, was rede ich da. Ihr habt euch bestimmt von Anfang an gedacht, hoffentlich hat er eine zweite, geheime, verruchte Seite, die er nur manchmal zeigt. Der Badboy unter der strahlenden Ritterrüstung und so weiter.
Allerdings hatte ich auch ein bisschen Schiss vor diesem Haru, wie mein hektischer Puls mir bestätigte. Er war viel zu aufmerksam, ihm entging keine Regung in meinem Gesicht, kein Atemzug. Kein falscher Gedanke.
„Wird das so ne Art magischer Lügendetektor-Test?", krächzte ich, bemüht, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
Doch mein Gegenüber ging nicht auf die Frage ein. Er lächelte nur. „Vielleicht hast du Recht und habe ich meine Pflichten wirklich vernachlässigt. Ab jetzt darf ich dich wohl nicht mehr aus den Augen lassen", meinte er schließlich.
Ich gab ein unbeeindrucktes Schnauben von mir. „Tja, zu spät. Hättest du dich von Anfang an verantwortungsvoll benommen, würdest du dich jetzt nicht fragen, wo der Schatten hin ist." Ich verzog voller Schadenfreude die Lippen bei dem nächsten Seitenhieb, der mir soeben eingefallen war. „Wie willst du das Imara erklären? Das gibt sicher Ärger. Vor allem nach deiner Niederlage gegen den Schatten im Park. Zweimal versagt in so kurzer Zeit", säuselte ich und konnte dabei genüsslich beobachten, wie sein selbstgefälliges Grinsen nach und nach in sich zusammenfiel. Ich legte ihm einen Finger auf die Brust und setzte nach: „Erinnerst du dich noch? Du hast dich eingerollt, als dein Schwert zerbrochen ist. Wie ein kleiner Embryo."
Obwohl die Luft zuvor bereits drückend schwer gewesen war, fühlte es sich mit einem Mal an, als wollte mich etwas Unsichtbares unter sich begraben. Ich keuchte und hätte mich um ein Haar an Haru festgeklammert. Doch so weit gesunken war ich noch nicht.
„Mag sein", flötete er scheinbar unberührt, doch jede Silbe klang, als strapaziere sie seine Selbstbeherrschung aufs Äußerste. Er hatte sein Lächeln wiedergefunden, auch wenn es dieses Mal seine Augen nicht erreichte. Außerdem konnte ich ganz deutlich eine Ader an seinem Hals hervortreten sehen ... „
„So oder so, ich werde dich ab jetzt auf Schritt und Tritt beobachten. Es stinkt nach Schatten hier drinnen. Nicht, dass dich noch einer besetzen will."
Verdammt, er konnte das riechen?! Oder war das nur eine Metapher?
„Ah", Ich kratzte mich scheinheilig am Hinterkopf. „Ich hab länger nicht mehr geduscht, weißt du."
Zu meinem Erstaunen fiel nach meinem lahmen Witz der Druck von mir ab. Erleichtert atmete ich auf und bemerkte, dass sich sowohl Harus Miene als auch seine Augen aufgehellt hatten. „Das meinte ich zwar nicht. Aber ja, vielleicht solltest du duschen." Endlich trat er einen Schritt zurück. Dabei rümpfte er gespielt die Nase. „Wenn du irgendwas brauchst, sag Bescheid."
Ich atmete tief ein. „Es gibt da schon etwas. Aber es hat weniger mit Körperhygiene zu tun. Ich möchte mich so schnell wie möglich vergewissern, dass es meiner Mutter und meinem Bruder gutgeht."
Haru runzelte die Stirn. „Warum? Haben sie dich kontaktiert?"
Sein Blick fiel auf mein Handy, das ich immer noch in der Hand hielt.
„Wir haben telefoniert. Ich mache mir Sorgen um meinen Bruder", gab ich zu.
Er nickte zögerlich, bevor er erwiderte: „Ich verstehe. Aber meinst du nicht, es wird sie zusätzlich in Gefahr bringen, wenn du dort auftauchst? Das wird mehr Schatten anlocken."
„Na dafür bin ich doch jetzt stärker, oder nicht? Ich hab mich nur verwandelt, damit ich den Schatten die Köpfe einschlagen kann!" Ich nahm eine kurze Pose ein, in der ich ihm meinen Bizeps präsentierte. Haru machte ein langes Gesicht.
„Unvorstellbar, dass du eine Vollkommene sein sollst ...", brummte er und drehte sich um, um zu gehen.
„Ich muss auch mit Imara sprechen. Alleine werd ich es nicht schaffen, bedenkt man, dass ihr mich angelogen habt", warf ich wie beiläufig ein. Haru hielt inne. „Angelogen?", fragte er.
Ich nickte. „Du weißt, was ich meine. Das Geschwafel von wegen, ich kann sie als Lucera beschützen. Aber ich werde nicht immer da sein können und wir können sie auch nicht mitnehmen."
„Nun, sobald du in Caelus bist, werden die Schatten von ihnen ablassen. Die Verbindung zu deiner Familie ist dann nur noch sehr schwach. Die Schatten greifen sie dann nur noch so häufig wie jeden anderen Menschen auch an."
Ich presste die Zähne zusammen. Am liebsten wollte ich fragen, was denn mit dem Krieg war, den die Lux und die Umbra anscheinend planten. Und ob die Schatten sich dann nicht vermehrten und stärker wurden und alles fraßen, was sie zwischen die dunklen Finger bekommen konnten. Inklusive der negativen Emotionen meiner Familie, die dann dem Wahnsinn verfallen würden. Aber dann musste ich wohl oder übel davon erzählen, woher ich von dem Krieg wusste und das musste ich definitiv verhindern. Zumal Haru sowieso behaupten würde, dass Dreckstück mich angelogen hatte. „Das ist doch vollkommen egal!", presste ich stattdessen zwischen den zusammengebissenen Zähnen vor. „Trotzdem können sie von den Schatten angegriffen werden. Ich habe mich auf das Ganze eingelassen, weil ich sie beschützen wollte. Also will ich einen Deal mit Imara, damit ich mit nach ... Caelus komme."
Haru seufzte. „Nun, das verwundert mich nicht. Du scheinst ziemlich stur zu sein." Er warf mir einen amüsierten Blick über die Schulter zu. „Dann versuch mal dein Glück. Aber vorher zieh dir besser was über." Er ließ mich stehen und Hitze stieg mir in die Wangen. Ich schaute an meinem Körper hinab und wollte am liebsten im Erdboden versinken. Haru hatte mich mit seinem Eintreten vorhin so erschreckt, ich hatte darüber vergessen, dass ich immer noch den Hoodie an meinen Körper presste, den ich eigentlich hatte überziehen wollen.„Übrigens: Beeindruckender Schlag gegen Imara vorhin. Und schönes Tattoo."
Perplex starrte ich in den Flur, aber er war schon verschwunden. Ich griff an die Stelle zwischen meinen Schulterblättern und fühlte über die raue Haut. Ich hatte es mir noch kein einziges Mal richtig angesehen. Das Lichtzeichen. Meine Wangen brannten und ich warf mir den Hoodie über, dann rannte ich ihm hinterher. „Wie kannst du es wagen, meinen Spruch gegen mich zu verwenden!?", brüllte ich mit erhobener Faust und stolperte beinahe in Imara und Leon, die sich um ein Paar Kopfhörer stritten.
„Das sind meine, was kann ich dafür, wenn du deine verloren hast?!", beschwerte sich Leon in einer beinahe schon verzweifelt hochgeschraubten Stimmlage.
„Aber ich bin dein Boss und ich befehle dir, sie mir auszuhändigen!" Imaras Gesichtsausdruck sah ernster aus, als ich es erwartet hatte. „Ich konfisziere sie. Weil du sie ständig auf der Jagd trägst. So kannst du meine Anweisungen nicht hören."
„Ich brauche sie, mit Musik kann ich besser kämpfen!", jammerte er. „Du willst nur deine unheimlichen True Crime Podcasts damit hören!"
Imara riss die Augen auf. „Unheimlich? Ich lade dabei meine Energiereserven auf, klar?"
Ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken. Wie ein Roboter. „Hey. Ich muss mit dir reden", wandte ich mich an Imara und der Streit erstarb. Mit einem letzten Ruck riss die Lucera die Kopfhörer an sich, während sie mich neugierig musterte.
„Gib sie zurück!", zischte Leon, doch Imara tätschelte seine Wange und schob ihn weg.
„Was ist?", fragte sie mich, ohne mich aus den Augen zu lassen.
„Ich will meine Familie besuchen. Und ich will, dass ihr ein paar Lux bei mir zuhause zu ihrem Schutz stationiert", erklärte ich ohne Umschweife. Die besten Chancen hatten Mama und Yuzei, wenn ich alle Ressourcen ausschöpfte. Also warum nicht Schatten und Lichter darauf ansetzen, sie zu beschützen? Wobei das womöglich auch riskant war. Aber meine Familie zu beschützen hatte Priorität.
„Hm?", machte sie, dann kratzte sie sich hinter dem Ohr. „Ich nehme an, du machst uns sonst Ärger und weigerst dich, mit nach Caelus zu kommen? Du weißt, dass du an mich gebunden bist dank des Armreifs?"
Ich verzog den Mund. „Na und? Ich mach euch trotzdem Ärger. Wäre doch für alle angenehmer, wenn ich kooperiere, oder nicht?"
Imara schürzte die Lippen. Hinter ihrem Ohr schien sich ein richtiger Juckreiz zu entwickeln. „Du hättest auch erstmal fragen können, statt gleich mit mir zu verhandeln, als wäre ich ein Terrorist", maulte sie.
Was? Hieß das, ich musste sie überhaupt nicht überzeugen?
„Momentan können wir wenig Leute entbehren, aber einen Lucera werden wir sicherlich finden. Nur erwarte nicht, dass es der Stärkste sein wird. Aber ich gebe mein Bestes", bot sie an.
„So einfach?", flüsterte ich. Damit hatte sie mir den Wind aus den Segeln genommen.
„Also was denkst du denn von uns?", brummte sie. „Familie ist wichtig. Außerdem hab ich keine Lust, dich vom Boden zu kratzen, wenn einer deiner Leute das Zeitliche segnet. Also ist das Selbstverständlich."
Ungläubig starrte ich sie an.
Ich bin mal gespannt, wie du das erklärst, Dreckstück.

Lux - Krieg zwischen Licht und SchattenWhere stories live. Discover now