Kapitel 69

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„Sag mal", meinte Henry plötzlich und ich sah von meinem Laptop hoch. „Hm?", machte ich und schielte bereits wieder zurück auf den Bildschirm. Ich versuchte ein Essay fertig zu stellen, das bis heute Abend im Email-Postfach meiner Dozentin sein musste. Ich scheiterte kläglich, denn es existierten nicht einmal zwei vollständige Sätze.
Henry stand am Herd, legte den Kochlöffel bei Seite und drehte sich zu mir um.
„Du und dieser Tizian - Lief da mal was?".
Ich schmunzelte. Er hatte sich mit dem Rücken an die Ablage gelehnt, die Arme lässig vor der Brust verschränkt und hatte seiner Stimme einen beiläufigen, aber neugierigen Ton verliehen.
„Ne", ich schüttelte den Kopf. „Ich war nur immer mächtig verknallt in Tizian und er bildet sich immer noch etwas darauf ein. Wir haben mal rumgeknutscht, kurz nach dem Abi, das wars. Ich glaube er sieht mich eher wie eine kleine Schwester".
Ach Tizian. Wäre mein Leben ein Roman, er wäre der klassische Badboy gewesen.

Henry nickte und drehte sich kurz zurück zum Herd, um das Gemüse im Wok umzurühren. „Ich verstehe warum du verknallt in ihn warst. Er ist schon ziemlich cool", sagte er dann und ich lachte. „Ja oder?".
Dann wurde ich schnell ernst, denn mir fiel ein, was ich mich gestern in der Bar gefragt hatte.
„Vermisst du es fremdzuknutschen?", fragte ich und war kurz selbst überrascht, denn die Frage kam beinahe aus mir heraus geschossen.
„Was?". Henry schien verwirrt.
Ich klappte den Laptop zu und lehnte mich im Küchenstuhl etwas zurück. „Naja", sagte ich und wurde plötzlich etwas schüchtern. „Vermisst du es, was mit anderen zu haben? Anderen außer mir".
Meine Stimme war wesentlich leiser als beabsichtigt gewesen und ich stellte fest, dass ich mir nicht sicher war, ob ich Henrys Antwort wirklich hören wollte.
„Ehm", machte er und kratzte sich am Hinterkopf. „Wie kommst du darauf?".

Was für eine dämliche Reaktion, dachte ich und meiner Zurückhaltung wich Anspannung.
„Also ja", stellte ich fest und meine Stimme klang dabei viel genervter, als ich es beabsichtigt hatte.
Henry rieb sich über die Augen. „Nein", sagte er betont langsam. „Das habe ich nicht gesagt".
„Klang für mich so", erwiderte ich kurzangebunden und klappte den Laptop energisch wieder auf. „Vergiss es".
Ich war selbst überrascht von dieser Reaktion. Was war denn los mit mir? Hatte ich Angst, dass Henry es anders sah als ich? Dass er unsere Beziehung wieder etwas offener führen wollte, während ich an einem anderen Punkt war? Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich mir eine andere Reaktion gewünscht hätte und anstatt das normal zu kommunizieren, hatte ich ihn direkt angemotzt. Super.
Henry stöhnte.
„Zick nicht rum, Skara. Dafür hab ich keinen Nerv jetzt", sagte er und ich warf ihm einen schockierten Blick zu. Mein Mund klappte auf, dann wieder zu.
„Fick dich", erwiderte ich und verließ energisch die Küche.

Leo öffnete mir die Tür und er sah schlecht aus.
„Was ist denn mit dir los?", fragte ich überrascht, er schüttelte den Kopf undschniefte. Seine Augen waren glasig, er war blass und als er mich in der Küche fragte, ob ich etwas trinken wollte, konnte ich ihn kaum verstehen.
„Ich bin krank", erklärte er unnötigerweise und lehnte sich an die Arbeitsfläche, nachdem er den Wasserkocher angestellt hatte.
„Das kann ich sehen".
„Zu viel gefeiert", meinte er schulterzuckend. Er räusperte sich und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
„Glaub ich dir sofort". Leos Feierverhalten war in letzter Zeit ein wenig ausdem Ruder gelaufen. Es gab Wochen, da schlief er für mehrere Tage nicht. Henry hatte sich zwischenzeitlich gesorgt, aber war eigentlich der Meinung gewesen,dass sein großer Bruder wieder ein wenig zurück geschraubt hatte.

Ich schenkte uns beiden eine Tasse Tee ein und wir setzten uns an den schmalen Küchentisch.
„Du kannst so aber doch nicht mit zu deinen Eltern kommen", stellte ich festund Leo zuckte mal wieder mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich wollte das mit Henry klären. Wo bleibt der überhaupt, ich dachte ihr kommt gemeinsam her?".
Evy und Lothar hatten uns heute Abend zum Essen eingeladen, denn Vera war zuBesuch. Henry und ich wollten um halb Sechs bei Leo sein, doch er hatte gesagt,dass er nachkommen würde. Nach der Sache gestern hatten wir nur wenig miteinander gesprochen. Er hatte mit Raphi in der Küche gegessen, ich etwasspäter in meinem Zimmer. Henry hatte irgendwann geklopft, nachdem ich mich nicht mehr hatte blicken lassen. Ich übertrieb maßlos mit meiner Reaktion und Henry schien das auch so zu sehen, aber gerade deswegen fiel es mir so schwer einzulenken. Als er ihm Türrahmen stand, nachdem ich ein gegrummeltes „Ja was ist" von mir gegeben hatte, hatte ich ihn gefragt ob er bei mir schlafen würde unddas war quasi meine Entschuldigung gewesen und er sagte ja, schlüpfte unter die Decke und gab mir einen Kuss auf die Stirn während er mich an sich zog. Das war quasi seine Entschuldigung gewesen. Ich hatte aber noch immer keine Antwort aufmeine Frage bekommen.

Bevor ich heute Morgen überhaupt aufgestanden war, hatte Henry bereits dieWohnung verlassen und war zur Uni gefahren. Kurz hatte er gegen Mittagangerufen und gemeint, dass er noch einiges zu tun hätte.
Leo schaute auf die Uhr und dann mich fragend an. Jetzt zuckte ich mit denSchultern.
„Er meinte er müsste noch was erledigen und würde nachkommen", sagte ich alsonüchtern und Leo warf mir einen fragenden Blick zu. „Habt ihr euch gezofft?".
Wie zur Hölle konnte er das denn wissen?
„Ein bisschen", antwortete ich wahrheitsgemäß, da Leo anscheinend eh Gedankenlesen konnte. „Aber ich will nicht darüber reden".
Leo hielt abwehrend die Hände hoch. „Keine Sorge, ich halt mich raus".
„Seit wann?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen zurück und wir grinsten.



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Es gibt jetzt übrigens ein Prequel zu Trifolium :) 
Schaut gerne vorbei, um zu lesen wie es so los ging mit Skara und Henry!

TrifoliumWhere stories live. Discover now