23. Geheimnisse

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,,Was?", fragte ich ernst und winkte sie herein. Dorian ließ ein schweres Buch auf die Matratze fallen und suchte schnell nach der richtigen Seite.
,,Anscheinend möchte Bryaxis mehr, als wir anfangs dachten", sagte Manon kühl. Ich hob eine Augenbraue. ,,Mehr als unser Leben?"
Manon sah mich kalt an. ,,Wie schön, dass du noch scherzen kannst, kleine Weltenbeugerin."
Dorian unterbrach uns, indem er uns zu sich winkte.
,,Hier. Schaut euch die Zeichnung an." Ein schwarzer Schatten, der sich über ganz Prythian ausgebreitet hatte. Dunkle Augen starrten mich an und ich zuckte zurück.
,,Ist das Bryaxis?", fragte ich leise und der König nickte.
,,Sieh dir an, wie viel Macht er einst hatte. Wie konnte das niemand von euch wissen?" Der Unglaube in seiner Stimme ließ mich zweifeln. ,,Denkst du, die High Lords verheimlichen etwas?"
Es fühlte sich verboten an, so etwas überhaupt zu denken. Der König zuckte mit den Schultern. ,,Möglich wäre es."
Stirnrunzelnd sah ich auf das Bild. Bryaxis Klauen streckten sich über die Karte aus, es schien, als saugte er die Macht aus den Ländern. Alles war dunkel. Stumme Schreie standen in den Gesichtern der Fae.
,,Gibt es einen Text dazu?"
,,Ich suche, Mareille", erwiderte der König ungeduldig, ,,aber es scheint, als wäre das Bild nur eine Legende. Es ist das erste dieser Art, das ich gefunden habe. Sonst existieren keine Aufzeichnungen in eurer Bibliothek über Bryaxis. Nichts. Als gäbe es ihn gar nicht." Dorian wirkte beinahe verzweifelt, als könnte er nicht glauben, dass es etwas gibt, das nicht in Büchern steht.
,,Vielleicht ja nur nicht in der Bibliothek des Nachthofes", sagte ich leise und der König runzelte die Stirn.
,,Möchtest du jetzt jede Bibliothek in Prythian durchsuchen?" Trotz seiner Skepsis hörte ich die Aufregung in seiner Stimme. Er wollte jede Bibliothek in Prythian durchsuchen. Manon stöhnte auf.
,,Bring ihn nicht auf dumme Gedanken!", warnte sie.
,,Auf dumme Gedanken komme ich auch allein, Liebste", erwiderte der König kühl. Ich lachte leise und schaltete mich ein.
,,Wir haben genug Menschen, Fae, Gestaltwandler und Krieger, die liebend gern wieder nach Hause möchten. Lassen wir sie die Bibliotheken durchsuchen", meinte ich. Der König trug seine Enttäuschung mit Fassung.
,,Haben wir eine Möglichkeit, ihnen die Nachricht zukommen zu lassen?", fragte Manon und ich nickte.
,,Azriel kann den Wind teilen und es ihnen mitteilen." Ein kurzer Stich der Schuld durchfuhr mich. Ich hatte nicht daran gedacht, ihn dazu zu holen. ,,Ich wecke ihn", sagte ich leise und ging zur Tür.
,,Nicht nötig." Erschrocken fuhr ich zusammen, als Azriels dunkle Stimme aus der dunkelsten Ecke des Raumes erklang. Ich war nachlässig geworden. Ich hatte nicht bemerkt, dass er dort gestanden hatte.
,,Dachtest du wirklich, ich lasse dich allein in einem fremden Hof schlafen, wenn ein uraltes Monster dich töten möchte?", fragte er sanft. Damit hätte ich rechnen müssen.
,,Ich kann den Wind aber nicht teilen, um sie zu benachrichtigen", sagte er, seine Stimme leicht belehrend. Ich erinnerte mich. Deshalb mussten wir mit der Kutsche reisen. Damit Bryaxis die Magie nicht spürte.
,,Ich kann aber zurückfliegen. Ihr reist nicht ohne mich weiter!", befahl er ruhig. Dorian nickte und legte eine Hand an sein Herz. Bei seiner königlichen Eleganz wirkte diese Geste noch nicht einmal lächerlich. Azriel neigte dankend den Kopf und verschwand in seinen Schatten.
,,Wie lange dauert es, bis er ihnen die Nachricht überbracht hat?", fragte Manon und ich zuckte mit den Schultern.
,,Je nachdem, wie tief alle schlafen."

Warten war eine Qual. Ich ging auf der Terrasse auf und ab und starrte in den Horizont.
,,Wie lange warten wir schon?", fragte Manon zum dritten Mal und der König warf einen Blick auf die goldene Uhr an der Wand.
,,Jetzt sind es drei Minuten, Liebste." Ich hörte sein Grinsen auch mit dem Rücken zu ihm. Fauchend bekundete Manon ihren Unmut. Ich ignorierte sie und betrachtete die Landschaft. Thesen hatte uns wunderschöne Gemächer zugewiesen. Der Balkon zeigte direkt auf die weiten Wiesen, die bereits begonnen hatten, bunt zu blühen. Ich liebte den Frühling. Ein goldener Lichtstrahl am Horizont fing meinen Blick.
Der Sonnenaufgang.
Ich hörte, wie die Fae sich auf dem großen Platz vor dem Palast versammelte. Manon und Dorians Stimmen wurden leiser, wurden von dem ehrfürchtigen Schweigen der Natur übertönt. Ich musste schlucken, als ich sah, wie die Landschaft in ein warmes Gold getaucht wurde. Langsam wanderte die Sonne höher, sanft stieg sie über die geschwungenen Hügel. Alles schien für einen Moment lang stillzustehen. Selbst die Welt hatte aufgehört zu atmen. Der blaue Himmel begann, sich zu verfärben. Ein Lichtspiel aus Pastellrosa, hellem Orange und Violett zog sich über der Sonne zusammen und ich streckte meine Hand aus, find das erste Licht des Tages ein. Es wärmte mich, meine Magie begann zu summen und ich lächelte breit. Unfähig, etwas zusagen, schritt ich näher an die Brüstung. Alles schien warm zu leuchten, sanftes Gold ließ den Hof des Morgens atmen. Manon und Dorian waren hinter mich getreten. Die Sonne tauchte unsere Gesichter in das liebevolle Licht des Morgens. Die bronzene Haut der Fae begann beinahe zu leuchten.
Ich wusste nicht, wie lange wir schweigend dastanden. Das erste, das ich wieder hörte, war der Gesang einer Amsel. Sie landete vor uns auf der Brüstung des Balkons und sah uns mit schief gelegtem Kopf an. Ich grinste, als nach und nach mehr Vögel mit einstimmten. Als weckten sie uns alle aus einer Trance begannen die Fae auf dem Platz unter uns freudig zu reden, alles schien auf einmal erwacht. Ich drehte meinen Kopf zu Dorian und Manon und sah, dass der König Manon einen sanften Kuss auf das weiße Haar drückte. Die Mundwinkel der Hexe verzogen sich zu einem leichten Lächeln, das sie schnell versuchte zu verstecken.
,,So lässt sich das Warten aushalten, nicht wahr?", fragte der König leise und Manon nickte leicht.
Es war unglaublich schön, sie so zu sehen. Und doch konnte ich die leise Eifersucht in mir nicht ganz unterdrücken. Ich wollte das selbe. Jemanden, der mich zum Sonnenaufgang küsste. Jemanden, der mir half, meine Bücher zu tragen. Jemanden, der mich bei einem Kampf ablenkte, wenn er nur vorbeilief. Ich wand meinen Blick ab und blinzelte eine kleine Träne weg. Kurz schüttelte ich meinen Kopf und verdrängte das lästige Gefühl.
,,Alles in Ordnung?", fragte Manon mit zusammengekniffenen Augen und ich begriff, dass ich das Licht um mich herum gekrümmt hatte. Sofort rief ich meine Magie unter Kontrolle und nickte.
,,Natürlich. Alles bestens." Selbst in meinen Ohren klang es unglaubwürdig. Die Schatten, die sich hinter Manon und Dorian sammelten, lenkten die beiden von mir ab.
,,Azriel ist wieder da", sagte ich leise und drängte mich an ihnen vorbei. Ich spürte den mitleidigen Blick des Königs auf meinem Rücken und hätte ihn am liebsten angefaucht. Schweren Herzens unterdrückte ich diesen Drang, indem ich Azriel sofort belagerte, als er aus den Schatten auftauchte. 
,,Sind sie einverstanden?"
Der Schattensänger riss erstaunt die Augen auf, als er mich so dicht vor sich stehen sah. Schnell fing er sich wieder und nickte. ,,Ja, sie durchsuchen die Bibliotheken." Prüfend sah er mich an, stellte aber keine Fragen. Ich war ihm unendlich dankbar.
,,Lasst uns aufbrechen. Heute Nachtmittag sind wir am Sommerhof", sagte er sanft und ich hakte mich bei ihm unter. Er nahm den Körperkontakt ohne eine Regung in Kauf. Beinahe hätte ich ihn umarmt, aber das wäre vielleicht doch zu viel des Guten gewesen.

MareileWhere stories live. Discover now