Held der Nacht | 𝔻𝕀𝕃𝕌ℂ

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Bild: winkio._ (Instagram)
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Ganz leise knarrend öffnet sich die schwere Holztür.
Wie in Zeitlupe schlüpft die schemenhafte Silhouette eines großen, schlanken Mannes ins dunkle Zimmer.
Fast lautlos schließt er die Tür wieder hinter sich.
Dann stapfen dumpfe Schritte, wie von schweren Stiefeln, über den Holzfußboden - langsam und bedächtig.

Plötzlich wird es hell im Raum.
Der hochgewachsene Mann mit den feuerroten Haaren zuckt zusammen und ein überraschter Laut entkommt seinen Lippen. Für eine Sekunde kneift er die Augen zusammen, denn die müssen sich erst an die Helligkeit gewöhnen.
Dann jedoch lässt er die schützend hochgezogenen Schultern sinken und seine Mimik entspannt sich merklich.

„Du bist noch wach", stellt er fest. Seine Stimme ist tief und klangvoll, aber selbst bei den wenigen Worten, die sie spricht, kann man deutliche Erschöpfung heraushören.
„Selbstverständlich", sage ich, „Habe ich jemals nicht gewartet, bis deine Schicht beendet ist?"
Dilucs gleichgültige Maske fällt in sich zusammen, als seine Mundwinkel sich zu einem Schmunzeln heben.
„Nein", sagt er amüsiert und beginnt, sich die schwarzen Handschuhe von den Fingern zu zupfen, „Dazu schläft die Dame zu ungern alleine ein."
Ich verschränke die Arme in gespielter Empörung und mache langsam ein paar Schritte auf ihn zu, während er sich seines langen, schwarzen Mantels entledigt.
„Es ist ja nicht meine Schuld, wenn du mich so verziehst. Was kann ich dafür, dass ich nur noch gut schlafen kann, wenn du bei mir bist?", frage ich währenddessen provokant.
Diluc legt den Kopf in den Nacken und schließt genießerisch die Augen, seinen Rücken dabei gegen die Tür gelehnt.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich so etwas von dir höre...", grinst er schelmisch. Dieser Gesichtsausdruck, so zufrieden mit sich und der Welt, lässt Schmetterlinge in meinem Magen aufsteigen.
„Ach ja?", frage ich und überbrücke die letzten Zentimeter zu ihm.
„Ja", sagt er gelassen und schlingt seine Arme um mich, „Weil du mir damit indirekt zu verstehen gibst, dass du dich bei mir sicher fühlst. Und das macht mich glücklich."
Er stützt sein Kinn leicht auf meinem Kopf ab; schließlich ist er einen ganzen Kopf größer als ich.
Ich schmiege mich an ihn und presse mein Gesicht an seine starke Brust, um seinen unverwechselbaren Geruch in mich aufnehmen zu können; ein Hauch von Wein gepaart mit dem Duft von Holz und einer rauchigen Note. Ich kann nie genug davon bekommen, weil es mich daran erinnert, wer dieser Mann hier vor mir eigentlich ist.

„Wie war dein Tag?", murmle ich und sehe zu ihm hinauf.
Er schaut zur Seite und schweigt, was mir schon verrät, wie sein Tag abgelaufen ist.
Er ist unglaublich früh aufgestanden, wie immer. Hat dann bis nachmittags auf seinem Weingut „Morgenröte" geschuftet und dafür gesorgt, dass alles seinen Gang geht, damit Mondstadt und generell ganz Teyvat mit Wein beliefert werden kann. Ich wette, er hat weder gefrühstückt noch etwas zu Mittag gegessen und Pausen legt dieser Mann sowieso niemals ein. Als wäre das noch nicht genug, hatte er heute die Abendschicht in der Taverne der Stadt. Ich kenne seinen Dienstplan. Er hat sich also stundenlang mit ungemütlichen Trunkenbolden herumgeärgert, sich deren unglaubwürdigen und vom Löwenzahnschnaps schon ein wenig beschönigten Lebensgeschichten angehört, dabei ihr ungehobeltes Verhalten und ihre Alkoholfahnen ertragen müssen - und das alles stocknüchtern, weil ausgerechnet der Besitzer des besten und erfolgreichsten Weinguts dieser Welt keinen Alkohol mag.
„Wie immer", murmelt er schließlich als Antwort auf meine Frage und kann mir dabei nicht in die Augen sehen.
Er hat ein schlechtes Gewissen und weicht deshalb meinen Blicken aus. Er hat mir schon so oft versprochen, auch mal Pausen zu machen und sich nicht bis zur Erschöpfung zu arbeiten. Und jedes Mal, wenn er am Ende des Tages merkt, dass er das Versprochen erneut nicht eingehalten hat, macht ihm das zu schaffen. Das kann ich in seinen rubinfarbenen Augen erkennen. Genauso wie ich dann in ihnen die stumme Bitte um Verzeihung lesen kann.

𝔾𝕖𝕟𝕤𝕙𝕚𝕟 𝕀𝕞𝕡𝕒𝕔𝕥 𝕆𝕟𝕖𝕤𝕙𝕠𝕥𝕤Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt