Kapitel 1

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Quietschende Reifen, heulender Motor, der Aufprall, sein Körper, wie er sich überschlägt, mein Herz, das bricht. Schweißgebadet setzte ich mich im Bett auf und tastete mit klopfendem Herzen nach der Nachttischlampe. Ich fühlte die Nässe auf meinen Wangen und brauche nicht danach zu tasten um zu wissen, dass ich im Schlaf geweint hatte. Wieder einmal. Wie jede Nacht.

Es hatte vor 10 Jahren mit einer verbotenen Liebe zwischen Stiefgeschwistern begonnen. Es mündete in kranker Besessenheit und Gefangenschaft. Und nun stand ich vor dem Scherbenhaufen, der sich mein Leben nannte, wieder einmal mit gebrochenem Herzen. Und dabei hatte ich es diesmal sogar selbst zerbrochen.

Mit zittrigen Beinen stand ich auf. Wie jede Nacht lief ich die gewohnte Route durch das kleine Einzimmerapartment, prüfte die Fenster und Türen, schielte in das Badezimmer, bevor ich meinen Rundgang in der Küche beendete. Die Küche war nicht mehr als eine kleine Zeile an der Wand gegenüber meines Bettes, besaß aber alles was man zum Leben brauchte. Oder besser gesagt, zum Überleben.

Seufzend hielt ich den Wasserkocher unter den Wasserhahn und holte mir eine saubere Tasse und einen Teebeutel aus dem Schrank. Nachdem der Tee aufgebrüht war, griff ich in den Kühlschrank. Ich brachte die lästigen Stimmen in meinem Hinterkopf zum Schweigen und schüttete einen Schluck Vodka in die Tasse. Das machte ich nicht jede Nacht, ok?! Ich war nur wirklich fertig und brauchte dringend Ruhe vor meinem Gewissen.

Immer wieder spielten sich die Bilder in meinem Kopf ab. Maksim... Ich hatte ihn bei meiner Flucht mit dem Auto überfahren. Da ich zu diesem Zeitpunkt die Augen fest geschlossen hatte, wusste ich nicht, wie schlimm ich ihn tatsächlich erwischt hatte. Mein Gehirn war hierbei allerdings äußerst hilfreich und ergänzte die Lücken jede Nacht mit neuen blutrünstigen Bildern.

Ich blinzelte die aufsteigenden Tränen hinunter und nahm einen Schluck. Der Tee war noch viel zu heiß, aber ich begrüßte den Schmerz, der mich kurzzeitig von meinem gebrochenen Herzen ablenkte.

Maksim...

Er hatte mich wie einen verdammten Kanarienvogel gefangen gehalten. Und er war sich meiner so verdammt sicher gewesen. Ein bitteres Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ja, ich liebte ihn. Nein, ich ließ mich von ihm nicht bis an mein Lebensende einsperren und kontrollieren. Ich hatte keinen anderen Ausweg gesehen als zu fliehen gleich nachdem ich sein Vertrauen gewonnen hatte. Ich hatte es dennoch nicht geschafft meine Gefühle dabei aus dem Spiel zu lassen. Ich litt jeden Tag, jede Nacht. Und doch war es mir richtig erschienen. Es war doch richtig, oder? Das hier war doch das Leben das ich wollte, in Freiheit, ohne seinen Zwang und seine Regeln, oder?

Ich griff mir an den Kopf als die ersten Kopfschmerzen sich ankündigten. Im Bad fand ich zielsicher eine Tablette um schlimmeres zu vermeiden. Und nein, man sollte Alkohol und Medikamente nicht zusammen kombinieren.

Nackt, wie ich war, hatte ich also kurzerhand meinen Stiefbruder auf meiner Flucht überfahren und ihm gleich noch mein Herz dagelassen. Nackt, wie ich war, wusste ich danach nicht, wohin ich gehen sollte. Aber wofür hatte man schließlich treudoofe Exfreunde? Mein Weg führte mich zurück in meine Heimatstadt, dahin, wo alles angefangen hatte. Ich fuhr zu Danny.

Er sah noch genauso aus, wie ich ihn damals verlassen hatte. Groß, blond, sonnengebräunt mit eintausend Watt Lächeln und strahlend blauen Augen. Er war natürlich auch älter geworden, der Kiefer markanter, ein Bartschatten auf den Wangen. Wieso hatte ich mich nicht in ihn verlieben können? Es hätte alles so einfach sein können...

Als ich nackt in dem gestohlenen schwarzen SUV vorfuhr, fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Es wäre zum Totlachen gewesen, wenn es nicht so verdammt demütigend gewesen wäre. Er brachte mir wortlos eine Decke und versuchte mir die ganze Zeit über ins Gesicht zu schauen. Ganz der wohlerzogene Danny der er eben war. Natürlich hatte er Fragen. Natürlich konnte ich sie nicht beantworten. Wie hätte ich ihm erklären sollen, dass mein Stiefbruder Maksim bei der Bratva war und mich als sein Sexspielzeug behalten wollte? Dank der Spuren auf meinem Körper hatte ich eine andere passende Erklärung parat. Gewalttätige Beziehung... Flucht vor dem Partner... Dabei waren diese Spuren mit Genuss entstanden und darüber zu lügen belastete mein Gewissen nur noch mehr.

„Lea, was ist passiert?" Danny sah so unglaublich herzzerreißend besorgt aus, dass es mich einiges an Kraft kostete meinen Nervenzusammenbruch auf später zu verschieben.

„Ich ...", stammelte ich. Was konnte ich ihm sagen? Ich wollte ihn nicht in Gefahr bringen, doch Maksim hatte mein Leben zerstört als er mich zu sich holte. Ich wusste nicht einmal mehr wie meine Eltern hießen und wo sie sich aufhielten! Ich hatte nichts mehr, keinen Job, keine Wohnung, kein Kontakt zu Freunden, ich besaß einfach nichts. Ich hatte nicht einmal mehr meine Papiere!

Ich brauchte dringend Hilfe um unterzutauchen. Doch ich konnte nicht zur Polizei gehen. Was hätte ich denen auch erzählen sollen? Ich wusste nichts von Maksims Machenschaften bei der Bratva. Und der Sex war... einvernehmlich. Heiße Röte brannte auf meinen Wangen als ich es mir eingestand. Was sollte ich also gegen Maksim vorbringen? Wer würde mir glauben? Und ganz nebenbei bemerkt... Ich hatte ihn überfahren!

Ich zitterte am ganzen Leib. Danny hatte offenbar Angst mich irgendwo zu berühren, denn er hielt immer noch Abstand.

„Ich rufe die Polizei, Lea. Die können dir sicher helfen." Er griff bereits nach seinem Handy als ich sein Handgelenk umklammerte.

„Nein, bitte nicht! Er wird mich umbringen!" Ein tiefer Schluchzer löste sich und damit auch die Schleuse in meinem Inneren, welche bisher die Tränen aufgehalten hatte. Danny hielt mich währenddessen vorsichtig im Arm, als könne er mich zerbrechen.

Nach einer Weile kriegte ich mich wieder ein und erzählte ihm eine an den Haaren herbei gezogene Geschichte über einen gewalttätigen Freund, vor dem ich geflohen war.

„Danny, er ist gefährlich. Ich dürfte gar nicht hier sein! Ich muss verschwinden!" Mit diesen Worten löste ich mich aus seiner Umarmung und stand auf.

„Lea, so kannst du nicht weiter ziehen. Sieh dich doch an. Wo willst du hin?" Er hatte leider recht.

„Danny... Es ist mir so unangenehm danach zu fragen. Aber könntest du mir etwas Geld leihen? Du bekommst es zurück, versprochen! Irgendwann..."

„Ja klar Lea, alles was du brauchst. Sag mir nur was." Ich nahm Zettel und Stift und fertigte eine grobe Liste an. Stirnrunzelnd nahm Danny mir den Zettel ab und überflog ihn. Seine stechend blauen Augen sahen tief in meine.

„Bist du dir sicher?"

„Ja."

Zwei Stunden später verließ ich das Haus mit einer Tasche voll Bargeld, komplett in schwarz gekleidet. Meine vormals blonden langen Haare waren schwarz, ein etwas zu langer Pony verbarg meine blauen Augen.

Ich fuhr stundenlang bis der Tank fast leer war und hielt bei einem Gebrauchtwagenhändler. Für ihn war es wie Ostern und Weihnachten an einem Tag als ich den brandneuen SUV gegen eine unauffällige Limousine tauschte, die ihre besten Tage schon lange hinter sich hatte. Im Handschuhfach fand ich eine Landkarte und Dartpfeile und eine absurde Idee formte sich in meinem Kopf. Ich nahm beides mit in das ranzige Motel Zimmer, welches ich für die Nacht gemietet hatte, betrank mich und warf die Pfeile nach der Karte. Zu dem Zeitpunkt war ich leider bereits so betrunken, dass ich ganze zehn Versuche benötigte um zu treffen. Niemand würde mich an einem so zufällig gewählten Ort vermuten. Da war ich mir sicher. Ganz sicher.

Der Vorteil von Geld war, dass es Fragen beantwortete ohne etwas erklären zu müssen.

„Wieso brauchst du eine neue Identität?" Ein Geldbündel wechselte den Besitzer.

„Hast du etwas illegales getan oder wirst du verfolgt?" Noch ein Bündel wandert über den Tisch, Fragen beantwortet.

Und so starb „Lea Wolkow" auf dem Papier. Nur leider hatte ich das Gefühl, dass mit dem Namen auch meine Existenz immer mehr verschwand. Ich war langsam aber sicher nur noch ein Schatten meiner selbst.

Verbotenes Verlangen: für immer deinWhere stories live. Discover now