Kapitel 20

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"You never realize the holes a person leaves behind until you fall into them."

— Neal Shusterman, The Dark Side of Nowhere


Ich rannte. Mein Herz klopfte wild gegen meine Brust und mein Atem ging stoßweise. Schwungvoll stieß ich die Türen der Eingangshalle auf. Der Bahnhof war zum Glück nicht allzu groß, weshalb ich mich schnell zurechtfand. Erschrocken starrte ich auf die große Uhr und mir wurde schlagartig schlecht.

Verdammt! Nur noch drei Minuten.

Wie vom Teufel getrieben, spurtete ich zum Bahngleis 3. Dabei rempelte ich mehrmals andere Fahrgäste an, doch darauf konnte ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Nach einer hektischen Entschuldigung lief ich weiter und erwischte gerade noch rechtzeitig meinen Zug.

Erschöpft ließ ich mich auf einen freien Platz fallen und lehnte meine Stirn gegen das kalte Fensterglas. Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief durch.

Zum Glück hatte ich es doch noch rechtzeitig geschafft. Als ich heute früh von Alice geweckt worden war und ich gesehen hatte, wie spät es schon war, hatte ich nur die nötigsten Sachen zusammengepackt und war aus dem Zimmer gestürmt. Mit großen und schnellen Schritten hatte ich meinen persönlichen Schutzort hinter mir gelassen.

Der Zug setzte sich in Bewegung und ich sah dabei zu, wie der Bahnsteig sich immer mehr entfernte. Nach kurzer Zeit ließen wir den Ort hinter uns und tuckerten durch die karge Landschaft von Nebraska. Der Himmel war heute von einer dicken Wolkenschicht bedeckt und es sah nach Regen aus. Alles war grau und dunkel, genau wie meine Stimmung.

Das kurze Vibrieren meines Handys riss mich aus meiner Starre. Drei neue Nachrichten von Alice leuchteten auf dem Display auf. Ich schmunzelte, als ich mir ihre Nachrichten durchlas und sah, dass sie immer noch tippte.

Hast du es geschafft?

OMG, du schreibst nicht.

Zur Not fahre ich dich mit dem Auto.

Ach ne, du fährst ja nicht.

Hey!

Antworte doch, wenn du online bist.

Halloooooo??? Ich sterbe hier vor Neugierde.

Aza!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Bevor sie mich noch weiter zuspammen konnte, antwortete ich ihr schnell.

Alles gut...bin gerade noch rechtzeitig angekommen. Sitze jetzt in der Bahn. Ich schreibe dir, wenn ich zu Hause angekommen bin. Bis später.

Damit legte ich das Handy beiseite und schaltete es stumm.

Es war nichts gegen Alice, aber ich brauchte für ein paar Stunden meine Ruhe. Ich war sehr dankbar, dass ich Alice als Freundin hatte, aber ich konnte ihr nicht alles anvertrauen. Da war dieser Knoten in mir, den ich nicht lösen konnte und solange ich dazu nicht in der Lage war, würde ich ihr nicht von meinen inneren Dämonen erzählen. Dafür war ich im Moment nicht bereit. Auch wenn meine Psychologin mir immer wieder geraten hatte, mich gegenüber anderen Menschen zu öffnen, um meinen Schmerz zu teilen, konnte ich es nicht. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Viel zu lange war ich allein mit mir und meinen Gedanken gewesen. Ich wollte nicht raus aus meinem Alaskaversteck, denn dort war ich in Sicherheit. Ich war nicht bereit dazu, jemanden in meinen Schutzraum eindringen zu lassen, egal, wie einsam ich auch war.

Gedankenverloren ließ ich den Blick nach draußen schweifen. Die Landschaft zog so schnell an mir vorbei, sodass ich mich fragte, was ich alles verpasste da draußen.

Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now