Kapitel 56

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,,You said goodbye like it was just a word and it wouldn't take my breath away.''

-Unknown


Schleichend kam es in Wellen. Direkt auf uns zugerollt. Unaufhaltsam. Riss alles in Stücke. Dass nichts mehr übrig blieb. Von uns.

Ich wollte es nicht akzeptieren. Konnte es nicht.

Innerhalb von zwei Tagen hatte sich Evans Zustand noch mehr verschlechtert. Dr. Lewis sah seine Hoffnungen schwinden. Ein schwerer Erreger hätte sich in Evans Körper eingenistet wie ein Parasit, der ihn von innen auffraß.

Es fühlte sich so an, als bestände Evans Leben aus einer Sanduhr. Nur war ich es, die den Sand durch meine Finger rieseln spürte. Immer schneller. Und es gab kein zurück. Dieses Mal konnte ich die Uhr nicht umdrehen.

Die letzten beiden Tage hatte Evan die meiste Zeit über geschlafen. Mir kam es so vor, als hätte er seinen Lebenswillen verloren. Er lachte nicht mehr. Schaute mich nicht mehr an. Stattdessen wich er meinen flehentlichen Blicken aus. Er wollte nicht mehr kämpfen. Vielleicht hatte er auch keine Kraft mehr dazu.

Während ich alles daransetzte, Evan es so angenehm wie möglich zu machen, blieb Raven die ganze Zeit an meiner Seite. Wenn wir spätabends bei meinen Großeltern zuhause ankamen und sich die Tür hinter uns schloss, war er es, der mich auffing. Ich hatte keine Kraft mehr. Die Panik erfüllte mich und ich schrie meinen Frust und diesen qualvollen Schmerz in die Welt hinaus.

Raven war derjenige, der mich in den Schlaf wiegte, wenn mich Albträume verfolgten und ich schluchzend aufwachte. Er hielt mich fest und drückte mich an seine warme Brust, wenn ich eine Panikattacke hatte.

Von all dem bekam Evan nichts mit. Ich wollte stark für ihn sein. Für uns beide. Doch auch ich hatte meine Grenzen und ich wusste nicht, wie lange ich noch imstande war, diese Mauern vor ihm aufrechtzuerhalten. Nur Raven bekam mit, wie es wirklich in mir aussah. Er fing mich auf, wenn meine Beine zu schwach wurden, um mich zu tragen. Ich ließ ihn als einzigen Menschen hinter meine Fassade blicken.

Ich wusste nicht, wie ich all das anders hätte durchstehen sollen. Ohne Raven wäre ich schon verloren gewesen.

Der Sturm war längst über uns hereingebrochen und tobte. Er ließ nichts als Verwüstung zurück. Er nahm mich gefangen, breitete sich in mir aus und ließ mich hilflos fühlen.

Die Sonne konnte mich nicht mehr wärmen. Ich erfror und verbrannte gleichzeitig.

Meine Panik stieg ins Unermessliche, wenn ich daran dachte, dass vielleicht heute der letzte Tag sein könnte, an dem mein Bruder noch leben würde.

Mit jedem Tag, an dem es ihm schlechter ging, nistete sich dieser Gedanke immer mehr in meinem Kopf ein.

Ich wollte mich der Realität nicht stellen.

Und doch wusste ich tief in mir drinnen, dass es zu spät war. Ich würde fallen, tiefer als jemals zuvor und nichts würde mich auffangen können.

Ich war mir nicht sicher, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen konnte, bis er zerbrach. Ich wollte es nicht herausfinden. Nicht jetzt. Bitte noch nicht jetzt.

Fest hielt ich Evans knochige Hände mit meinen umschlungen. Seine Atmung war unregelmäßig. Flach. Ich konnte förmlich spüren, wie meine Seele innerlich bei seinem Anblick in Tausend kleine Stücke zerfiel. Ihn auf diese Weise leiden zu sehen, brach mir das Herz. Ich konnte nur stumm dabei zusehen, wie er sich jeden Tag ein bisschen mehr von mir entfernte.

Warum hatten wir nicht einmal in unserem Leben Glück? Wieso wurde uns immer alles genommen? Womit hatten wir all dieses Leid nur verdient?

Niemand würde mir darauf eine gerechte Antwort geben können. Das Leben war nicht fair. Das war es nie.

Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now