Die Welt war grau geworden. Der Himmel in dem Loch in der Decke war grau, eine Fläche aus Beton, die jeden Augenblick herunterfallen konnte. Der Schutt, aus dem sich einmal ein Haus zusammengesetzt hatte, war grau. Die Menschen, die darin herumwühlten, hatte der Staub ebenfalls grau bemalt. Landra war von einigen tiefen Wunden gezeichnet. Ein sterbendes Wesen, das sich mit verbliebener Kraft am Leben festbiss und mit jedem Luftholen doch nur Blut ausspie.
Chanders Atem stieg weiß der Decke entgegen. Steinchen rieselten herab, über ihm knirschte etwas und auch sonst klang das Gebäude, als hätte es eine Magenverstimmung. Er packte seinen Rucksack und rannte los, sprang von Betonscherbe zu Metallplatte zu Betonscherbe. Eine rutschte unter seinem Fuß weg, doch er schaffte es strauchelnd durch eine der nackten Fensteröffnungen. Mit gerunzelter Stirn drehte er sich um, blinzelte in das Zwielicht des halb eingestürzten Gebäudes. Darin sahen ihm ein paar Menschen entgegen, die wohl seine Flucht beobachtet hatten.
Ihre höhnischen Worte wurden von der Decke unterbrochen, die auf sie herabkrachte. Steinstaub wallte auf und wurde aus den Öffnungen geschleudert, was Chander dazu veranlasste, einen Satz nach hinten zu machen, den Kopf abzuwenden und sich den Schal über Mund und Nase zu ziehen.
Kurz wog er ab, in den Trümmern weiterzusuchen, zog an den Gurten des Rucksacks auf seinem Rücken, den Wert des Inhalts berechnend. Ein paar Waffen, darunter vor allem Absorbierer und Magiespeicher, Dosenfraß, eine Flasche Wein und eine Schachtel Zigarren.
Ein Husten ließ ihn nach unten Blicken.
„Hilfe, bitte", röchelte ein von einem Stahlträger eingeklemmter Mann und streckte eine blut- und dreckverschmierte Hand nach ihm aus.
Er zögerte, tat sogar einen Schritt auf den Kerl zu, sodass sich Hoffnung auf seinem Gesicht abzeichnete. Chander packte probeweise das Metall, überlegte sich, ob er den Träger durch Hebelwirkung anheben konnte oder ob er wirklich die Magie in einem seiner Ringe dafür opfern sollte.
In der Ferne hallte Gejohle durch die Überreste des Stadtteils, was Chander endgültig in die Gegenwart beförderte. Bald würden die Hyänen hier sein. „Vielleicht helfen die dir", murmelte er, stand auf, wandte sich vom Gebäude ab, von den Lauten, die entweder vom Wind kamen oder von klagenden Stimmen der Personen unter den Trümmern, und schritt durch den Bezirk. Goldene Augen brannten sich in seinen Hinterkopf, nicht vorwurfsvoll oder wütend oder auf sonstige Art verurteilend. Nur traurig.
Grau. Keine bunte Werbung mehr, abgesehen von ein paar Plakaten, die die Vorzüge des Soldatenlebens beschrieben. Wenige Menschen, die den Blick stur nach unten gerichtet hatten und an den Wänden entlanghuschten. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Und nicht auf die Fresse fallen, wenn man auf den Bruchstücken balancierte. Von fast jedem Gebäudekörper hatten hier magische Bomben Fleisch herausgerissen und das Adergeflecht aus Wasser- und Stromleitungen und die Innereien offengelegt.
Er schlüpfte durch ein Loch in ein Haus, erklomm eine Steintreppe ins erste Stockwerk und schritt den langen Flur entlang, vorbei an Zimmern mit jeweils einem Schreibtisch, einem Stuhl und hier und da sogar noch einem Computer. Durch die rußbefleckten Fenster beobachtete er die Straße, bis seine Aufmerksamkeit an einer Gruppe Plünderer hängen blieb, die sich mit Handschlag begrüßten. Keine Bande, soweit er erkennen konnte. Sein Blick glitt weiter. An der Stelle, an der es so aussah, als hätte das Schwert eines Riesen das Gebäude zerteilt, rutschte er auf Metallplatten ins Erdgeschoss und stand wieder auf der Straße.
Dann war es, als übertrat er eine Grenze, ein Portal in eine andere Stadt.
Im nächsten Bezirk brannten sogar Lichter in ein paar Wohnungen. Reiner Zufall, welchem Bereich von Landra der Krieg einen Besuch abgestattet und welchem er nur ein hochmütiges Lächeln geschenkt hatte.
Eine Mutter beobachtete, wie ihre beiden Kinder Fangen spielten. Sie rannten um eine Metallstatue, der der Kopf fehlte. Aus dem Augenwinkel behielt ihn die Frau im Blick, was ihn dazu veranlasste, schneller weiterzugehen, um sie nicht weiter zu beunruhigen. Die letzte Mutter, die er hatte ausrauben wollen, hatte ihm den linken Arm durch seinen Schutzschild hindurch verbrannt.
Etwas rammte ihn von hinten, ein Haltegurt schnalzte, als er riss. Der Dieb wollte den Rucksack von Chanders anderer Schulter ziehen, brach stattdessen aber durch die Fensterscheibe des leerstehenden Geschäfts links, als ein Windstoß ihn erwischte. Fluchen war zu hören und mehrstimmiges Gelächter, das im Rumoren des bebenden Bodens unterging.
Die Mutter hatte ihre Kinder gepackt und verschwand mit ihnen um die nächste Ecke.
Chander rannte, ein Straßenteil sackte unter seinen Füßen weg und er stützte sich mit der rechten Hand auf dem Boden ab und schlug einen Haken. Ein Ziehen in der Herzgegend meldete sich, aber daran hatte er sich gewöhnt. Wenn der vermummte Möchtegern-Dieb in Blau und Grau die Vorhut eines Trupps der Grauen Kornblumen gewesen war, war er am Arsch. Ein weiterer Schlenker bewahrte ihn davor, mit einem Stück Boden nach oben geschleudert zu werden. Anstatt rechts abzubiegen, wie die Mutter, nahm er die linke Abzweigung und legte einen Zahn zu. Ein Quader erhob sich aus dem Boden, über den er seitlich hinwegsegelte. Pfiffe verfolgten ihn. Er entkam dem Gefühl, Beute einer Treibjagd zu sein, genauso wenig, wie seinen Verfolgern. Nach rechts ging es durch eingeschlagene Scheiben in eine Mall. Lichter flackerten in den verwüsteten Geschäften, erschufen bizarre Silhouetten, und Rolltreppen gingen unermüdlich ihrer Arbeit nach. Chander hatte nur Augen für den ebenso offenstehenden Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite, der ihn auf einen Platz mit massiven, aber leeren Blumenkübeln entließ.
Vor ihm stand eine Gruppe in Grau, pünktlich auf ihre Ablösung wartend. Ordnungshüter. Die ihn halb misstrauisch, halb neugierig musterten.
„Die wollen mich ausrauben", fasste Chander zusammen und zeigte hinter sich, wo sich die Meute in Blaugrau aus den leeren Türöffnungen ergoss. Jeder von ihnen hatte das Tattoo einer Kornblume über dem linken Auge. Natürlich.
Die Gruppen beäugten sich.
Eine vorlaute Kornblume trat vor und setzte ein süffisantes Grinsen auf. „Wer sagt denn, dass der Alte nicht uns ausgeraubt hat? Oder steht da irgendwo dein Name drauf?"
Chander erwiderte das Grinsen. Nicht ganz so süffisant und kantiger. „Ja. Da." Er zog an einem Schildchen, das am oberen Henkel des Rucksacks befestigt war. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als er noch Teammitglieder mit identischen Rucksäcken hatte.
Das fanden die anderen Blümchen offenbar sehr amüsant.
„Das beweist doch gar nichts", maulte der Vorlaute. „Rück schon her."Auffordernd sah Chander zu den Ordnungshütern, die wiederum einen der ihren aufmerksam beobachteten. Der Anführer seufzte den Himmel an. „Mein Gott, diese Stadt raubt mir noch den letzten Nerv." Dann blickte er zu Chander. Seine Augenlider hingen auf halbmast und Augenringe verschönerten seine blasse Visage. „Gib ihnen schon, was sie wollen."
Sein Gehirn brauchte länger als das der Blümchen, die schon wieder in Gelächter und Gejohle ausbrachen. „Wie bitte?"
„Hast du Lust auf einen Kampf? Auf den Papierkram danach? Das ist es nicht wert."
‚Das bist du nicht wert', meinte der Ordnungshüter-Anführer-Depp eigentlich.
Das Anführerblümchen grinste derweil und wackelte auffordernd mit den Fingern.
Chanders Nägel bohrten sich in seine Haut. „Soll das ein Witz sein? Das kann auch nur ein aufgeblasenes Arschloch sagen, das selbst in Kriegszeiten noch alles reingeschoben bekommt. Könnt ihr dann nicht wenigstens euren verfickten Job machen?"
Jetzt trat doch ein lebendiges Feuer in die Augen des Anführers. „Wie war das, Kanalratte?" Steif und hochaufgerichtet kam er auf ihn zu. „Ich will deine Identifikationskarte –"
Chander schmiss eine Münze in die Luft und sprintete zur Seite weg, warf sich hinter einem Blumenkübel zu Boden und aktivierte eine Barriere. Ein Wirbelwind brach aus dem kreisrunden Metall, das er hochgeworfen hatte, zog beide Gruppen auf einen einzelnen Punkt, auf die Münze zu. Flüche und Schmerzenslaute hallten über den Platz, als Körper kollidierten. Das Signal, dass Chander seinen Marathon fortsetzen sollte.
YOU ARE READING
Der Tanz von Sonne und Mond
Fantasy(#wattyswinner) - „Verstehst du es jetzt? Menschen lügen. Aus Angst, Stolz, Eigennutz ... Es ist oft nur der Lügenkleister, der ihr Scherbenleben zusammenhält." Chander Ainsworth ist einer der wenigen Menschen, die keine nennenswerten magischen Kräf...