Die Melodie des Meeres

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„Zwei Möwen haben heute meinen Turm umkreis. Ich konnte ihre Schreie hören, wie sie nach mir riefen", flüsterte die junge Mutter. Ihre Lider flatterten leicht, als die Erinnerung der beiden Vögel durch ihren Geist huschte und ein seliges Lächeln breitete sich auf den vor Trocknis aufgesprungenen Lippen aus.

„Ein Hauch von Silber lag über ihrem hellen Gefieder, als wären sie dem mondgeküssten Schaum des Meeres entstiegen. In ihren hellen Augen blitzte ein wacher Verstand und sie riefen nach mir, während sie mühelos Runde um Runde auf den Schwingen des Windes segelten. Ich soll zu ihnen zurückkehren..."

Von einem Augenblick zum nächsten, legte sich der nur allzu vertraute Schleier der Sehnsucht wieder über das ausgemergelte, aber selbst nach langer Krankheit mit zarter Lieblichkeit gesegnete Antlitz. Fort war die verträumte Freude, einen Anflug glitzernder Tränen in den dunklen Wimpern der Frau hinterlassend.

„Ihr Verstand ist einmal mehr davongeflogen, wie die Illusion der Geistervögel", so dachte Denethor bei sich, die Erzählung als einen Fiebertraum seiner Gemahlin abschreibend. Möwen waren die Bewohner der Küste, kamen dort in kreischenden Scharen vor, doch nie wagten sich die weißen Tiere die vielen hundert Meilen ins Inland vor. Diese beiden Möwen mussten der Erinnerung Findulas an ihre Heimat Dol Amroth entstiegen sein, denn in Minas Tirith gab es keine.

Boromir seufzte leise auf, seine jugendliche Ungeduld nur schwer im Zaum halten könnend. Im Gegensatz zu seinem fünf Jahre jüngeren Bruder, welcher gebannt an den Lippen der Mutter hing, konnte der Ältere den geflüsterten Geschichten wenig abgewinnen. Ihn scherte weder die zärtliche Melodie des Wellenrauschens, noch die Vorstellung des Windes, welcher ein jedem im Haar zu tanzen schien, der Findulas geflüsterten Worten aufmerksam lauschte.

Auch Denethor war mit der Zeit der schier endlos erscheinenden Aufzählung von Blautönen, in welchen das stürmische Wasser im Sonnenschein erstrahlen konnte, müde geworden. So erlaubte der Truchsess seinem Erstgeborenen sich zu entfernen und mit einem „Ein fröhliches Julfest und eine erholsame Nachtruhe wünsche ich Euch, Mutter", war der Zehnjährige auch bereits aus dem kleinen Turmzimmer verschwunden. Keinen Blick zurückwerfend auf die zerbrechlich scheinende Gestalt, deren schwarzes Haar sich in matten Wogen über das helle Leinen ergoss.

Zu zweit standen sie noch am Lager der Kranken, welche sich unter Schmerzen nach Atem ringend in einem beißenden Hustenanfall krümmte. Ihre Lungen bräuchten die frische Luft des Meeres, hatte sie ihrem Gemahl einst vorgeworfen, nachdem dieser ihr verboten hatte, in die Heimat zu reisen. Doch der Herr Gondors war hart geblieben in seiner Entscheidung, denn Sorge beherrschte sein Herz, dass seine geliebte Gemahlin nie zu ihm zurückkehren würde, da ihr Auge erneut die Schönheit der See erblickt hatte.

Schon damals, da er Findulas auf seiner Reise nach Dol Amroth zum ersten Male erblickt und sich in sie verliebt hatte, war ihm ihre Liebe zum Meer ein eifersüchtiger Dorn im Herzen gewesen. Denn wäre es nach der schönen Maid gegangen, in deren
Andern das Blut von Elben und Dunedain sich vereint hatte, so hätte sie die Ufer ihrer geliebten Heimat nie verlassen.

Letzten Endes war Denethor ihrem Vater zu besonderem Danke verpflichtet, denn nur dem Prinzen Dol Amroths war es gelungen, die Prinzessin von einer Heirat mit dem sie zwei Jahrzehnte an Lebenszeit überragenden Truchsess zu überzeugen. Denn gleichwohl Findulas Denethor als Manne nicht abgeneigt gewesen war, so hatte das Ehegelübte der jungen Frau doch den größtmöglichen Tribut abverlangt: ihre Heimat und besonders schmerzlich ihr über alles geliebtes Meer hinter sich zu lassen.

Schön und stolz wie eine weiße Rose war die Braut in Minas Tirith eingeritten, die Bürger mit der Lieblichkeit ihrer Gestalt und dem sanften Wesen einnehmend. Doch hatte diese Blüte nicht lange gewährt. Einer Pflanze aus den am Meer gelegenen Tälern gleich, welche man auf kargen Fels verpflanzt hatte, war Findulas in der weißen Stadt gewelkt. Immer öfter war sie in ihrem Turm anzutreffen gewesen, den bangen Blick gen Osten auf den wiedererstarkenden Schatten gerichtet oder voller Sehnsucht gen Süden in Richtung ihrer einstigen Heimat.

Eine Reise durch Mittelerde (OneShot-Sammlung)Where stories live. Discover now