Der Geist der Weihnacht

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„Jede Jahreszeit hat ihre eigene Bedeutung, keine ist wichtiger als eine andere, denn nur in ihrem Wechselspiel kann sich die Natur vollends entfalten", hatte Belladonna Beutlin ihrem Sohn Bilbo einst erklärt.

„Im Winter wird neue Kraft geschöpft, alles kommt zur Ruhe, fällt in einen tiefen Schlaf, um im Frühling zu neuem Leben zu erwachen. Und damit man es bis dahin schafft, begehen wir Weihnachten, das sinnliche Fest, zu dem man mit seinen Liebsten zusammenrückt, Kälte und Dunkelheit für eine Nacht mit Lachen, Kerzenschein sowie gutem Essen vertreibt."

Warm war Belladonnas Lächeln gewesen, wenn sie so sprach, denn sie hatte diese Tage mit ihrer Familie geliebt, gleichwohl zwischen ihrer Vorstellung und der Wirklichkeit ein nicht unerheblicher Unterschied bestand.

Der Heiligabend war im Hause Beutlin stets einer der geschäftigsten Tage des gesamten Jahres. Feste Rituale, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden, takteten den Ablauf, damit unter keinen Umständen etwas Unvorhergesehenes passierte*.

(*Zunächst wurde ausgiebig gefrühstückt, was sich bei Hobbits schon einmal bis in den frühen Vormittag ziehen kann. Danach wurde der Baum hereingeholt und aufgestellt, ehe es mit dem 12 Uhr Tee weiterging. Gestärkt konnte danach das Baumschmücken beginnen, bevor das Mittagessen mit einem dazugehörigen, kleinen Mittagsschläfchen folgte, ehe man sich auf einen gemütlichen Nachmittagsspaziergang durch Beutelsend machte. Danach standen nur noch der 5 Uhr Tee, der mit ausreichen Plätzchen eingenommen wurde, und das Schmücken der Höhle auf der Tagesordnung, ehe endlich der Höhepunkt des Tages kommen konnte: das Abendessen.)

Als junger Hobbit hatte Bilbo Beutlin diesen besonderen Tag ebenso sehr wie seine Mutter herbeigesehnt, doch nun, da seine Eltern längst verstorben und er selbst gerade einmal drei Monate von seinem Abenteuer zurückgekehrt war, fühlten sich all diese Traditionen hohl und einengend an. Ein fahles Abbild besserer, vergangener Zeiten.

Beinahe wäre ihm die Lust, das Weihnachtsfest in seiner noch immer nicht ganz vollständig wieder eingeräumten Höhle zu feiern, vollständig vergangen.

Erschöpft ließ Bilbo sich um halb sechs in seinen Ohrensessel sinken und beschloss, bis zum Abendessen keine seiner haarigen Zehen mehr zu rühren. Erst war ihm die Kiste mit den Weihnachtsgewürzen ausgekommen und hatte ihren Inhalt in der halben Küche verteilt, dann waren die Girlanden in seiner Abwesenheit zu einem einzigen Knäul verwachsen, dem nur die Schere hatte Abhilfe schaffen können.

Ein Nickerchen würde ihm jetzt gut tun und seine angekratzten Nerven beruhigen. Ja, ein kleiner Schlummer war absolut wohlverdient, überlegte Bilbo, er hatte schließlich die gesamte Arbeit allein verrichtet und das war nicht gerade wenig gewesen.

Verstehe einer, weshalb man sich diesen Stress jedes Jahr aufs Neue antun muss, dachte der Hobbit bei sich und seufzte. Und die gesamte Zeit über hing der wundervolle Duft des Festtagsbraten in der Luft, der bereits vor dem Frühstück im Ofen verschwunden war, ließ seinen Magen allein beim Gedanken an das herrlich zarte Fleisch knurren.

Ach, wie schön wäre es doch, den Heiligabend mit jemandem teilen zu können! Wenn doch nur Thorin... Nein! Eilig verbot der Hobbit sich jeglichen weiteren Gedanken an den Zwergenprinzen, diesen einen Abend würde er sich nicht mit trübem Brüten über Erinnerungen verderben. Wo er allerdings gerade bei den Zwergen war...

Hektisch sprang Bilbo auf, er hatte ja Balins Geschenk völlig vergessen! Schnell eilte der Hobbit durch die weihnachtlich dekorierte Höhle in sein Arbeitszimmer, wo in einer großen Holztruhe seine größten Schätze lagerten.

Der schwere Deckel quietschte beim Anheben empört auf, doch Bilbo achtete nicht auf diesen Protest. Zärtlich glitt sein Blick über all die Erinnerungsstücke seines Abenteuers. Neben einer Handvoll inzwischen sorgfältig gerahmter Karten glitzerte Stich, doch so gern der Meisterdieb auch sonst seine Finger über das vertraute Heft wandern ließ, an diesem Abend schob er es nur vorsichtig beiseite, um das unscheinbare, in braunes Packpapier gewickelte Päckchen darunter freizulegen.

Eine Reise durch Mittelerde (OneShot-Sammlung)Where stories live. Discover now