37

2K 141 18
                                    

John

„Du solltest dich umziehen."

Dad reichte mir eine Tasche, welche Mom wahrscheinlich für ihn gepackt hatte. Sie war gemeinsam mit Thalia in unserem Appartement, um sich von dem Schock, der uns vor wenigen Stunden ereilt hatte, zu erholen. Sofern es überhaupt möglich war.

Während Dad mir die Tasche übergab, saß Matthew neben mir, dessen Hände bereits vom Klinikpersonal behandelt wurden. Ich hatte es gar nicht richtig mitbekommen, aber während Dad und ich versucht hatten, Brookes Blutung zu stillen, hatte er Ben mit gezielten Schlägen beinahe ins Koma versetzt.

Er war wütend und hatte es diesem Scheusal eindeutig zu spüren gegeben. Doch Wut beschrieb meine momentane Gefühlslage nicht einmal annähernd. Eine Vielzahl an Emotionen prasselte auf mich ein und schien meinen Verstand beinahe davonzutragen. Meine Hände zitterten und ich mein Herz raste, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Vor einigen Monaten hatte ich Brooke versprochen, sie zu beschützen und ich hatte versagt. Nun blieb abzuwarten, ob Ben es geschafft hatte, sie mir wegzunehmen.

Noch immer leuchtete die rote Lampe über der Tür zu dem Raum, in welchem die Ärzte gerade um sie und das Baby kämpften. Ich stand unter Schock und konnte nicht einmal sagen, wie wir hierhergekommen waren. Selbst die Befragung durch die Officer, welche mit dem Vorfall betraut waren, nahm ich nur durch einen Schleier wahr.

Ich konnte erkennen, dass es andere waren als jene, die bisher mit unserer Familie zusammen gearbeitet hatten. Bereits vor Wochen wurde der Officer, welcher uns aufs Schäbigste hintergangen hatte, seiner Position enthoben. Er wartete in einem Untersuchungsgefängnis auf seine Verhandlung und würde nie wieder in seinem Job arbeiten. Wie und warum er Ben jedoch half, wusste noch keiner von uns.

Das Monster war nicht in dieser Klinik. Nachdem festgestanden hatte, dass er zwar halb tot aussah, jedoch keine lebensbedrohlichen Verletzungen erlitten hatte, wurde er in die nächstbeste Nervenheilanstalt verfrachtet. Dort sollte er bleiben, denn ich würde ihn vermutlich umbringen für das, was er meiner Familie seit Jahren antat.

„John", riss Matthew mich aus meinen Gedanken und brachte mich somit dazu, ihn anzusehen. „Die Sachen." Er deutete mit seinem Kopf auf die Tasche, welche vor meinen Füßen stand.

„Ich kann mich jetzt nicht umziehen", gab ich bedrückt von mir. „Was, wenn etwas passiert? Ich kann nicht." Diese Last, welche mich zu erdrücken versuchte, würde erst von mir abfallen, wenn es Neuigkeiten aus den Operationssaal gab.

Dad, welcher vor mir stand, zog sein Jackett aus und hielt es vor mich. „Dann mach es hier. Wir sind zwar alleine, aber ich schirme dich ab. Deine Sachen sind voller Blut und du willst doch nicht, dass Brooke dich so sieht, wenn sie aufwacht."

Es war mir ein Rätsel, woher er seinen Optimismus nahm, doch so war er schon immer. Also zog ich mich auf dem Krankenhausflur um, während er und Matthew mich vor möglichen Blicken anderer abschirmten. Jeans und Shirt sowie bequeme Sneaker hatte Mom zusammengepackt und ich war wirklich dankbar, mir die blutverschmierten Sachen ausziehen zu können. Am Boden der Tasche fand ich eine Packung der Feuchttücher, welche Brooke bereits für das Baby gekauft hatte und säuberte damit Hände, Arme und mein Gesicht.

Ich stopfte die Teile, welche eigentlich mein Hochzeitsanzug waren, einfach in die Tasche und schob diese dann unter meinen Stuhl. Vermutlich würde ich diese samt Inhalt eines Tages im Garten meiner Eltern verbrennen. Mein Blick blieb kurz an meiner linken hängen und geistesgegenwärtig zog ich die Tasche wieder unter dem Stuhl hervor und suchte nach meinem Jackett. In dessen Innentasche hatte ich etwas versteckt, was ich Brooke schenken wollte, sobald wir den Tag hinter uns gebracht hatten. Die kleine Schachtel, nachdem ich sie gefunden hatte, verstaute ich in meiner Jeans.

„Was ist das?", fragte Matthew, der jede meiner Bewegungen genauestens verfolgt hatte.

„Ein Geschenk."

Leicht klopfte er mir auf die Schulter. „Du kannst es ihr bald geben."

Was wäre, wenn nicht? Wenn Brooke nicht mehr aufwachte? Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich schämte mich nicht, vor den anderen zu weinen.

„Es wird alles gut." Dad versuchte mich zu beruhigen, aber war damit nicht sehr erfolgreich, denn er vergoss selbst ein paar Tränen.

„Als der Anruf kam, dass die Zwillinge per Notkaiserschnitt auf die Welt kommen, habe ich nur noch funktioniert", begann Matthew und lenkte unsere Aufmerksamkeit auf sich. „Thalia war absolut hysterisch am Telefon und es ging mir nur darum, sie irgendwie zu beruhigen. Tate und Maddie waren für mich, bevor sie geboren wurden, gar nicht wirklich greifbar, aber vermutlich ist es bei uns Männern so. Meine Welt drehte sich nur um Thalia und darum, dass es ihr gut ging. Die Kinder wurden geholt und ich habe sie vollkommen ignoriert, weil es für mich nur meine Frau gab. Stunden nach der Geburt hielt ich Maddie dann das erste Mal in meinen Armen und habe geweint wie ein kleines Kind."

„Ich habe das Foto davon gesehen", begann Dad plötzlich zu lachen und wischte sich die Tränen weg.

Die beiden versuchten mich abzulenken und es gelang ihnen sogar etwas. „Sie ist dein Liebling, oder?", fragte ich meinen Schwager und sah ihn an.

„Ich habe keinen Liebling", räusperte er sich und rutsche auf seinem Stuhl hin und her.

„Mädchen sind immer der Liebling der Väter. Thalia ist auch der Liebling von Dad und er versucht nicht einmal, es zu verbergen." Ich war mir schon immer bewusst darüber, dass die Konstellation in meiner Familie so war. Dafür schlug Mom mir nie etwas aus und gab all meinen Wünschen nach.

Die nächste Stunde erzählten wir einander alles Mögliche, ohne ein wirkliches Thema zu haben. Hauptsache, wir lenkten uns irgendwie ab und als eine der Krankenschwestern durch die Tür trat, sprangen wir drei von unseren Plätzen auf.

„Wer von Ihnen ist der Ehemann?"

Ich ging auf sie zu, während Dad und Matthew vor ihren Stühlen stehen blieben.

„Folgen Sie mir bitte." Wir traten durch die Tür und gingen nach rechts in einen angrenzenden Raum. „Ihre Frau wird noch operiert, aber es wartet bereits jemand auf Sie."

Mein Blick fiel auf den kleinen Menschen, welcher geschützt in einem Inkubator lag und von dem Trubel um sich herum gar nichts wahrzunehmen schien. Ganz vorsichtig näherte ich mich diesem winzigen Geschöpf.

„Er hatte sich noch nicht ganz gedreht und durch seine Querlage hat das Messer ihn nicht getroffen. Trotzdem mussten wir ihn aufgrund des Blutverlustes Ihrer Frau bereits auf die Welt holen. Zu seiner Sicherheit haben wir alle notwendigen Untersuchungen bereits getätigt und er ist absolut gesund. Möchten Sie ihn kurz halten?"

Die Assistentin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt