5.1 Warten auf...

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Diesen Ort hatte Vyr noch nie bewusst betreten. Nein, höchstens in die Nähe davon gekommen. Und soweit er wusste, war er nur von seinem Gastgeber bewusstlos über die Schwelle und durch diesen Eingangsbereich geschleppt worden. Danach war er damit beschäftigt gewesen, die Tage im Bett oder auf dem danebenstehenden Hocker zu verbringen. „Genesung" schimpfte sich dieser lästige Prozess.

Das gesamte Gebäude, Jianyus bescheidenes Heim, bestand nur aus wenigen Räumen. Vier um genau zu sein, oder dreieinhalb, je nachdem, wie man zählen wollte – Küche, Schlafzimmer, Atelier und letztlich dem bisher unerkundeten Eingangsbereich. Gewaschen wurde sich draußen mithilfe von Eimern, Handtüchern, oder schlichtweg, falls genug Zeit war, in einem See, den Vyr noch nie zu Gesicht bekommen hatte.

Es war so befremdlich, so merkwürdig. Unerklärlich und doch selbstverständlich. Drei Tage und doch hatte er noch nie hier gestanden. Dafür hatte er jetzt aber genug Zeit. Mehr als ausreichend davon, um jeden Winkel mit seinem Blick abzutasten. Im Gegensatz zu seinem Gastgeber konnte er zwar keine Bilder anfertigen, doch er hätte genug Zeit gehabt es auf der Stelle zu lernen und eine perfekte Zeichnung des Raumes zu produzieren. Dazu hätte er aber im Vornhinein wissen müssen, wie lange er damit verbringen würde, hier zu stehen. Also beschränkte er sich aufs Schauen.

So erkannte er unter anderem, wie stabil die Türen waren. Garantiert hatte der Künstler bei dem massiven Holz jedes Mal einen kleinen Kraftakt zu vollführen, um sie zu öffnen. Bestimmt war es gesunde Übung, zumindest bis er sich eines Tages etwas zerrte oder so. Es waren eher zwei kleine Tore als Türen, gestrichen in kräftigem Rot. Normalerweise – aber seitdem er hier stand nicht – war dieser Eingang auch mit einem Querbalken verriegelt, selbstverständlich bemalt in passender Farbe. An jedem Türflügel war auch ein massiver Tigerkopf aus Metall angebracht, jeweils mit einem Ring im Maul, an welchem man die Tore öffnen konnte. Bestimmt spiegelte sich dieser Anblick außerhalb und machte Besuchern klar, dass dies keine billige Hütte war.

Daneben, in der Ecke links, waren einige dünne Scheite Holz aufgestapelt, die ein Feuer bestimmt für mehrere Tage zu ernähren vermochten. Ob dies verständlicher machte, dass Jianyu das Feuer hatte ausgehen lassen, oder ob etwa das Gegenteil der Fall war, darüber konnte man sich wohl streiten. Der Fliesenboden hatte tatsächlich erste kleine Kratzer dort, wo das Holz sich zur Zwischenlagerung befand. Aber sauber war es. Na gut, heute Morgen erst wurde dort gründlichst gekehrt, sodass kein noch so kleiner Splitter und auch keine Stücke an Rinde irgendeine Chance hatten, weiter in diesem Heim zu verweilen.

Farbflecken hingegen hatten sich scheinbar als besonders hartnäckig erwiesen. Selbst dort – wie auch immer der Typ es geschafft hatte, sie dort hinzubringen! Das Atelier war in einem komplett anderen Hausteil! – konnte man sowohl am Boden als auch an der Decke kleine Kleckse erkennen. Ihre Existenz innerhalb der sonstigen Reinlichkeit war ein Fremdkörper wie aus einer anderen Welt. Ähnlich, als würde eine große Bestie unter Menschen wandeln. Auf einmal wurden Vyr die Flecken sympathisch und er vermochte es nicht sie als irgendeine Form von Dreck anzusehen. Ja, er war Jianyu und seinen Klecksen dankbar, sonst wäre er nämlich vor lauter Langweile eingegangen. Vor allem ein besonders großer, blauer Fleck hob sich vom Rest ab, bildete einen kleinen Ozean und das Grün daneben schien Vyr wie ein angrenzender, gesunder Wald.

Es war auch das nächstbeste zu einem Gemälde, das Vyr die ganze Zeit über kennenlernen durfte. Weder zum Atelier, noch zum anschauen irgendeines von Jianyus Werken hatte er Erlaubnis bekommen. Aber gefragt hatte er nicht. Selbst schuld. Trotzdem wunderte es ihn das Verborgenbleiben seiner Werke. Die Maler, Barden, Dichter und wer sich sonst noch so Künstler schimpfte in seiner Heimat hatten nie das Maul gehalten und haben jeden Unschuldigen mit ihrem Schaffen überfallen oder bedroht.

Zumindest für kurze Beschäftigung sorgte auch ein Blick aus dem Fenster. So wie er wohnte, offenbarte sich ein Blick auf Bäume. Im tiefen Herbst hatte der Wald bereits den Großteil seiner Kleidung aus Blättern abgelegt und ohne Sinn für Ordnung am Boden verstreut. Am wolkenlosen Himmel war die einzige Veränderung der Sonnenstand.

Vom Himmel HerabWhere stories live. Discover now