Kapitel 44

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Der Pflock findet ein Ziel. Dieses Ziel bin zwar nicht ich, doch als ich sehe, wer es stattdessen ist, wünschte ich, ich wäre es.

Schock. Wie in Trance sehe ich wie sich der Pfahl in die Brust bohrt, wie Blut über den Boden strömt. Der Pflock war auf mich gerichtet, für mich bestimmt, doch er hat mich hinter sich geschoben.

„Flynn.", kreische ich und falle neben ihm zu Boden. Es sieht mich an, doch ich habe das Gefühl er sieht durch mich hindurch.

„Fae.", stöhnt er ganz leise und kaum hörbar.

„Flynn, du darfst nicht in Ohnmacht fallen, hörst du? Du musst wach bleiben, okay?", verzweifelt umklammere ich seine Hand und beuge mich zu ihm, während mir die heißen Tränen die Wange hinab kullern.

Flynn stöhnt leise und ich wiederhole meine Worte. „Flynn, verdammt, konzentriere dich! Bleib wach. Du bist doch mein bester Freund.", schluchze ich. Zum Ende bricht meine Stimme weg. Ich klammere mich weiter an seinem Arm fest, als wäre er mein Rettungsreifen, der mich vor dem Ertrinken schützt. Denn das ist er.

„Fae...", haucht er.

„Ja?", frage ich ihn sofort. Mein Blick bleibt bei dem dunklen Pfahl, das Ende ist so dick wie eine Faust, hängen, der ihm aus der Brust ragt. Mit einer schnellen Bewegung zerreiße ich sein Hemd um die Wunde besser sehen zu können. „Irgendwie kann man dich retten, irgendwie." Verzweifelt fuchtele ich mit meinen Händen über der Wunde, ich habe Angst ihm Schmerzen zu bereiten, wenn ich ihn berühre. Aber ich kann doch auch nicht einfach das Ding da drin lassen!

„Komm..", keucht er. Ich verstehe was er meint und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals.

„Ich...beschütze...dich.", krächzt er.

Ich will ihm wieder versichern, dass er überleben wird. Dass das alles nur eine Sache des Willens ist. Doch ich kann nicht, ich will ihn nicht anlügen, nicht jetzt. Nicht, wenn es das letzte sein kann, was er hört.

„Bleib bei mir.", flüstere ich also stattdessen. Denn das ist die Wahrheit, ich wünsche mir aus vollem Herzen, dass er bei mir bleibt.

Rasselnd holt er Luft. Wimmernd drücke ich mein Gesicht noch dichter an ihn, atme seinen Geruch tief ein, inhaliere ihn. „Bitte, verlass mich nicht.", flüstere ich. „Nicht du auch." Das darf er mir nicht antun. Das werde ich nicht überleben.

Er dreht seinen Kopf und lehnt seine Stirn gegen meine. Erschöpft schließt er seine Augen und atmet stoßweise.

„Fae.", seufzt er, während die Luft seine Lunge verlässt. Wieder vergrabe ich mein Gesicht an seinem Hals und schluchze laut hinein. „Du darfst nicht sterben, Flynn, bleib bei mir, bitte.", flehe ich. Ich lege meine Arme um ihn. 

„Bitte nicht, bitte nicht.", murmele ich wie ein Gebet immer wieder vor mich hin. Auch wenn ich weiß, dass es dafür schon viel zu spät ist. Sein Herz hat bereits aufgehört zu schlagen. Sein letzter Atemzug ist erfolgt.

Und dann überkommt mich die Wut, der verzweifelte, bittere Hass für seinen Mörder. Tränen überströmt richte ich mich auf und nehme das erste Mal seit langem meine Umwelt wahr. Es ist das nackte Chaos ausgebrochen, überall laufen panisch Wachen herum. Dann sehe ich ihn, umringt von Wachen. Mit einem wahnsinnigen Grinsen im Gesicht betrachtet er mich. 

Der Hass auf ihn überschwemmt mich, treibt mir noch mehr Tränen in die Augen. Ich will ihm dasselbe antun, was er Flynn angetan hat. Ich will ihm Schmerzen bereiten und ihn leiden lassen. Ich will, dass er um Gnade fleht. Er soll es bereuen, er soll es mit jeder Faser seines Körpers bereuen. Der Hass lässt mich alles andere ausblenden. Ich sehe nur ihn, Flynns Mörder, ein Monster.

A new & "normal" lifeWhere stories live. Discover now