𝟙𝟜 》 𝕄𝕠𝕥𝕠𝕪𝕒 & ℝ𝕚𝕟𝕥𝕒𝕣𝕠 - 𝟚《

47 5 7
                                    

Vergangenheit
[Motoya-PoV]

Auf unserem kleinen Trip gab es einige Nächte, in denen es ziemlich kalt war, doch eine werde ich wohl nie vergessen.
Sie war eine der Ersten.

Wir befanden uns noch immer mitten im April, das Wetter schwankte nach Lust und Laune und schneller als wir denken konnten, war unser Tank des Autos wieder leer.

Wir hatten mitbekommen, dass unsere Eltern wohl Vermisstenanzeigen rausgegeben hatten – Meine wohl eher, um den Schein zu wahren.

Als ich fertig getankt hatte, parkte ich das Auto am Parkplatz der Tankstelle und ging zu dem kleinen Shop, vor dem Rin gerade stand, einen Energy-Drink schlürfte und auf den Boden starrte, als gäbe es da eine Ameisenparty. Sein linkes Bein hatte er gegen die Wand angewinkelt.
„Alles okay?“, fragte ich ihn unsicher, und bekam nicht gleich eine Reaktion darauf.
„Ich denke nur nach“, erklärte er, seufzte dann leise.

Ich hatte das Gefühl, dass Rin etwas bedrückte, er aber selbst nicht die Überwindung fand, mit jemandem zu reden – Ich nahm es ihm nicht böse, dass er mir womöglich nicht vertraute, denn schließlich waren wir noch immer Fremde, die sich durch Zufall begegnet waren.

„Über was denn?“, fragte ich vorsichtig, stellte mich neben ihn, und überraschenderweise lief Rin nicht weg.
Ich musterte ihn etwas, während ich ihm die Zeit gab, die er womöglich brauchte. Seine braunen Haare waren etwas zerzaust, unter seinen Augen waren Ringe zu sehen, die abzeichneten, dass die letzten Nächte im Auto nicht gerade angenehm gewesen waren. Seine Augen selbst waren halb geschlossen, es wirkte, als würde er jeden Moment einschlafen – vermutlich deshalb der Energy.

Er hob die Schultern, seufzte wieder, dieses Mal lauter. „Du würdest es nicht verstehen“, sagte er leise, beinahe unsicher.
„Selbst wenn, ich bin ein guter Zuhörer. Du kannst mit mir reden, wenn dich etwas belastet.“

Rin sah für einen Moment zu mir, als würde er es in Erwägung ziehen, doch irgendetwas schien ihn zu hindern.

„Danke“, sagte er dennoch leise.

[Rintaro-PoV]


Mit einem Mal trank ich die Dose aus, entsorgte sie sorgfältig in einem Mülleimer und machte mich auf den Weg zurück zum Auto.
Motoyas Angebot hatte mich etwas überrumpelt, doch ich wollte mich durch so etwas nicht aus der Verfassung bringen lassen.

Ich wusste selbst nicht genau, wieso ich ihn überhaupt gefragt hatte, ob er mitkommen wollte – Theoretisch wäre ich auch alleine zurechtgekommen, ich wollte einfach nur weg von zuhause, weg von der Schule, weg von Allem. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Motoya anders war als all die anderen asozialen Menschen, denen ich in meinem Leben schon begegnet war, und vielleicht war das der Grund gewesen, wieso die erste Station meines Ausflugs sein Haus gewesen war.

Er holte sich ebenfalls noch etwas zum Trinken von der Tankstelle, ich wartete währenddessen im Auto – Motoya hatte seine Bankomat- und Kreditkarte mit, und wir waren beide etwas verwundert darüber gewesen, dass sein Vater die noch gar nicht sperren hatte lassen.
Die ganze Zeit über starrte ich durch die Windschutzscheibe auf den vorderen Teil des Autos, und bemerkte gar nicht, dass Motoya die Tür öffnete und sich auf dem Fahrersitz niederließ. Er hielt mir ein Sandwich entgegen, und ich warf ihm zuerst einen etwas verwirrten Blick zu.

„Für dich“, bestätigte er mir, sah mir dabei in die Augen – Ich bemerkte, dass etwas Sorge in ihnen lag, nahm die Packung dankend entgegen, und sah weg.
Langsam packte ich das Sandwich aus, biss hinein – gegen all die Dinge, die ich in den letzten Wochen zuhause abbekommen hatte und die es immer in der Schulkantine gab, schmeckte das nun wie das Menü eines Sternekoches, und ich genoss es. Wir wussten nicht, wie lange uns noch Geld zur Verfügung stand, und wir wussten nicht, was wir mit diesem Trip überhaupt erreichen wollten.

Als wir fertig gegessen hatten, wollte Motoya gerade das Auto starten, als mein Mund sich selbstständig machte. „Ich hab’s zuhause nicht mehr ausgehalten“, begann ich leise, doch Motoya hielt sofort in seiner Bewegung inne – Ich konnte seinen Blick auf mir spüren, auch wenn ich gar nicht zu ihm sah.
„Hast du… hast du Schwierigkeiten mit deinen Eltern?“, fragte er, als wüsste er mit einem Mal, was abging.
Ich gab ihm darauf keine direkte Antwort. „Meine Eltern haben Probleme mit sich, das ist das Problem“, sagte ich, und er hörte mir aufmerksam zu. „Sie streiten den ganzen Tag miteinander. Meine Mutter macht mich dafür verantwortlich, dass das alles so gekommen ist.“
„Aber was kannst du denn dafür?“, fragte er ruhig.
Ich seufzte, wippte etwas nervös mit meinem Fuß – Ich wusste nicht, wieso ich ihm so plötzlich vertraute. Ich hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, und ich hatte noch nie jemandem überhaupt vertraut, deshalb war ich in diesem Moment eher schockiert von mir selbst. „Ich bin nich‘ gerade ‘n braves Kind. Schulschwänzer, bringt schlechte Noten heim, klaut Autos in seiner Freizeit, bricht in den Nachbarsgarten ein, kriegt eine Anzeige nach der anderen…“, zählte ich auf, biss mir etwas auf die Unterlippe, aus Angst, ich könnte ihm ein allzu schlechtes Bild von mir übermitteln – obwohl es da eh nichts zu beschönigen gab, musste ich selbst zugeben. „Dabei war mein Vater selbst schon gefühlt vierzig Mal im Gefängnis wegen Drogenhandels, Diebstahls und so weiter.“

Motoya lauschte mir weiterhin, als wäre das alles nichts Besonderes – Ich konnte ihm nicht ansehen, was ihm durch den Kopf ging, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde er mir glauben, und irgendwie auch verstehen.
Ich sah meinen Füßen dabei zu, wie sie nervös wippten, als könnte ich nichts dagegen tun.

Ich hasste es, mich so zu fühlen.

„Jeden Tag stehe ich auf und höre sie streiten. Jeden Tag gehe ich schlafen und höre dabei, wie sie immer noch diskutieren. Es gab seit Jahren keinen einzigen Tag, an dem das nicht der Fall war.“ Ich machte eine Pause, schüttelte den Kopf, stützte meinen Ellbogen gegen das Fenster, während ich tief einatmete. „Es wäre besser gewesen, wäre ich gar nicht geboren worden“, rutschte es mir heraus – Manchmal passierte es, dass mir die Worte aus dem Mund huschten, ohne, dass ich darüber nachdenken konnte.

Ich zuckte etwas zusammen, als ich eine Hand an meinem linken Unterarm spüren konnte.
Erschrocken drehte ich mich zu Motoya, der mir etwas näher gekommen war und mir tief in meine Augen sah – Ich tat es ihm gleich, bemerkte das besorgte Funkeln in seinen, als würde ich es schon ewig kennen. Es faszinierte mich, inmitten dieser dunklen Iris die Spiegelung der vielen Lichter der Tankstelle zu erkennen, die noch eingeschaltet waren, obwohl der Sonnenaufgang schon längst stattgefunden hatten.
Ich spürte, wie mein Herzschlag sich etwas beschleunigte. Ich spürte seinen Blick auf mir. Ich spürte, wie er versuchte, Worte zu finden, doch sich etwas schwertat.

„Wenn du nicht geboren worden wärst, hätte ich nicht die Ehre, mit dir hier irgendwo im Nirgendwo zu sitzen, mich von billigem Tankstellenessen zu ernähren und im Auto auf einem abgelegenen Weg zu schlafen.“

Wir starrten uns kurz an, bis er etwas lächelte, und mir ein stummes Lachen entkam. Um es sofort zu verstecken, biss ich mir auf die Unterlippe.

„Du musst dein Lachen nicht verstecken“, sagte er. Ich wusste nicht, wie er das bemerkt hatte, doch in diesem Moment kümmerte ich mich auch nicht darum.
Motoya streckte seine Hand aus, strich mir über das kleine Grübchen, das aus dem angestrengten, versuchten Lächeln von mir erschienen war, als ich wegsah.

„Und du?“, fragte ich, schluckte dabei.
Natürlich wollte ich vom Thema ablenken, das war keine Frage. Aber dennoch hatte ich mich des Öfteren gefragt, wieso Motoya überhaupt sofort zugestimmt hatte, mit mir mitzukommen. Jeder Andere hätte mir wahrscheinlich eiskalt die Tür vor der Nase zugeknallt, aber er hatte einfach zugestimmt.

Er setzte sich wieder auf seinen Sitz, sah aus der Windschutzscheibe, und ich hoffte, er würde darüber sprechen, damit ich meine eigenen Probleme einmal mehr zur Seite schieben konnte.

„Ich hätte sowieso nicht mehr lange an dieser Schule.“
Ich sah verwirrt zu ihm. „Was meinst du?“
Er zögerte, griff auf das Lenkrad, starrte es an, als würde dort etwas stehen, bewegte es jedoch kein Stück. Er atmete tief durch, als koste es ihm Überwindung zu sprechen. „Du würdest mir nicht glauben“, seufzte er.
„Kannst du nicht wissen, wenn du’s mir nicht sagst.“
Er lachte leise auf, lehnte den Kopf gegen die Lehne, seine Hände blieben am Lenkrad. „Ich muss in eine Agentenschule wechseln“, sagte er.
Ich hob überrascht die Augenbrauen. „Was?“
Er lachte erneut auf, nahm eine Hand vom Lenkrad, um sich auf dem Mund zu kratzen. „Meine ganze Familie arbeitet bei einer Geheimargentenorganisation, und um da hin zu kommen, muss man das spezielle Training dort absolvieren.“
Nun zog ich meine Augenbrauen zusammen, betrachtete ihn irritiert – für mich wirkte er nicht gerade begeistert, weshalb ich nachhakte. „Du wirkst nicht so, als würde dich das freuen.“
„Tut es auch nicht“, sagte er gerade heraus. „Ich war noch nie so vernarrt in das Ganze wie meine Eltern oder mein Onkel. Aber mir bleibt nichts Anderes über“, erklärte er weiter, lächelte einmal breit, bevor er ausparkte und wieder auf die Autobahn fuhr.

Wir redeten nicht noch einmal darüber.
Keiner von uns begann ein Gespräch in diese Richtung, und keiner von uns hatte das Bedürfnis dazu.
Vielleicht war das gut so.
Vielleicht war das ein Zeichen des Schicksals, dass wir es hier hätten beenden sollen.
Vielleicht hätte es an diesem Punkt noch ein sicheres Zurück gegeben.

Wir waren Jugendliche, die von ihrem Leben zuhause fliehen wollten. Wir waren so leichtsinnig gewesen, und keiner von uns hatte sich an irgendeinem Punkt überlegt, wie es danach weiterging.

Vielleicht hätten wir umdrehen sollen.

Killer HeartWhere stories live. Discover now